Wendejahr 2001 Als China die Weichen für seinen Aufstieg stellte

Von Sven Hauberg

11.12.2021

Die Skyline von Shanghai ist das Symbol schlechthin für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.
Die Skyline von Shanghai ist das Symbol schlechthin für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.
Bild: Keystone

Am 11. Dezember vor 20 Jahren wurde China Mitglied der Welthandelsorganisation. Der Beitritt änderte das wirtschaftliche Gefüge der Welt auf dramatische Weise.

Von Sven Hauberg

Nichts mehr werde so sein wie früher, hiess es Ende 2001. Die Anschläge vom 11. September hatten die USA ins Mark getroffen, die Kriege Afghanistan und später im Irak zerrütteten eine ganze Weltregion.

Auch für die Schweiz war der Herbst 2001 bitter. Das Zuger Attentat erschütterte das Land, bei einem Brand im Gotthard-Tunnel starben elf Menschen, bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Zürich kamen einige Wochen später 24 Menschen ums Leben.

Und doch war es vielleicht ein eher unscheinbarer Akt, der die Welt noch weit stärker prägen sollte als all die Katastrophen jenes Jahres: Am 11. Dezember 2001, vor 20 Jahren also, trat die Volksrepublik China der Welthandelsorganisation (WTO) bei. Es war der Beginn eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufstiegs, der das Land zu der selbstbewussten Weltmacht werden liess, die es heute ist.

Am 11. Dezember 2001 wirbt ein Plakat in Peking für den Beitritt zur Welthandelsorganisation. Links steht in chinesischen Schriftzeichen das Wort «Willkommen», rechts das Wort «Herausforderung».
Am 11. Dezember 2001 wirbt ein Plakat in Peking für den Beitritt zur Welthandelsorganisation. Links steht in chinesischen Schriftzeichen das Wort «Willkommen», rechts das Wort «Herausforderung».
Bild: Keystone

«Die Wachstumsrate der chinesischen Wirtschaft war in den Jahren vor dem WTO-Beitritt rückläufig, danach stieg sie stark an», erklärt China-Experte Jacob Gunter von der Denkfabrik Merics im Interview mit blue News. «Auch die daraus resultierende Flut ausländischer Investitionen und Technologien trug dazu bei, Chinas Innovationspotenzial anzukurbeln, sodass sich das Land heute in einer Reihe von Branchen hoch entwickelte und weltweit wettbewerbsfähige Unternehmen beheimatet.»

Widerstand aus dem Westen

In den ersten zehn Jahren nach dem chinesischen Betritt zur WTO verdreifachte sich der Anteil des Landes am weltweiten Handel, heute liegt er bei rund 18 Prozent. «Wäre China nicht der WTO beigetreten, hätte es ein viel langsameres Wachstum und weniger Innovation erlebt», sagt Gunter.

Eine grosse Wirtschaftsmacht wäre das Land zwar dennoch geworden, glaubt der Analyst, weil dann einzelne Staaten bilaterale Handelsabkommen mit China geschlossen hätten. «Diese wären jedoch für China nicht so vorteilhaft gewesen wie die volle WTO-Mitgliedschaft, da sie chinesische Verbraucher, Produzenten, Innovatoren und Unternehmer sofort und zu gleichen Bedingungen in die gesamte Weltwirtschaft integriert hatte.»



Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas begann im Jahr 1978. Zwei Jahre zuvor war Mao Zedong gestorben, nun machte sich dessen Nachfolger Deng Xiaoping daran, China zu öffnen. «Reich werden ist ruhmreich», lautete die Devise des Architekten des chinesischen Wirtschaftswunders, der zwar Reformen vorantrieb, aber auch mit harter Hand gegen die aufkeimende Demokratiebewegung vorging. «Der WTO-Beitritt Chinas ist untrennbar mit dem Weg verbunden, den Deng Xiaoping nach den katastrophalen Jahrzehnten der wirtschaftlich inkompetenten Herrschaft Maos eingeschlagen hat», so Jacob Gunter.

Schon 1986 hatte das Land einen Antrag zur Aufnahme ins Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) gestellt, aus dem schliesslich die WTO hervorgehen sollte. Zwölf Jahre später war es Premierminister Zhu Rongji, der eine WTO-Mitgliedschaft vorantrieb. Doch China stiess auf Widerstand vonseiten der USA, Europas und Japans. Denn Peking wollte dieselben Zugeständnisse, wie sie Entwicklungsländer von der WTO erhielten, auch für sich geltend machen. Erst als China einlenkte, war der Weg schliesslich frei. 

Enorme Umwälzungen

«Wir haben einen hohen Preis für den Eintritt gezahlt», erinnerte sich vor zehn Jahren der damalige chinesische Handelsminister Chen Deming. Denn China musste sich als nunmehr 142. WTO-Mitglied den Regeln der Handelsorganisation anpassen. Zu leiden hatten vor allem chinesische Bauern und marode Staatsunternehmen, die sich auf einmal mit einem globalisierten Markt konfrontiert sahen.

In den grossen Städten im Osten und Süden des Landes aber begann die Wirtschaft zu boomen. Viele Millionen Menschen zogen als Wanderarbeiter nach Schanghai, Shenzhen oder Guangzhou, um zu niedrigen Löhnen billige Konsumgüter für den Weltmarkt zu produzieren. Ihre Familien, die oftmals in den ländlichen Regionen Westchinas zurückgeblieben waren, sahen sie nur noch wenige Male im Jahr.



Der WTO-Beitritt veränderte nicht nur die Wirtschaft des Landes, sondern auch die chinesische Gesellschaft. Eine Mittelschicht entstand, und Abertausende wurden reich. Heute zählt China mehr als eintausend Dollar-Milliardäre – und damit mehr als die USA.

Gleichzeitig weigert sich China allerdings bis heute, einige der WTO-Verpflichtungen umzusetzen, denen das Land vor 20 Jahren zugestimmt hatte. So blockiert Peking in manchen Bereichen noch immer den Marktzugang ausländischer Unternehmen oder zwingt sie zum Technologie-Transfer. Auch Produktpiraterie ist weiterhin verbreitet. Und unter Xi Jinping wurde – anders als versprochen – die Dominanz der Staatsunternehmen wieder ausgebaut.

Kritik von Donald Trump

Der WTO-Beitritt sei ein Meilenstein gewesen, sagte unlängst Li Chenggang, Chinas Botschafter bei der Welthandelsorganisation, in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua. Die Mitgliedschaft sei für die «Entwicklung, Reform und Öffnung Chinas» erforderlich gewesen, so Li. Im Westen, vor allem in den USA und in Europa, stiess der Beitritt aber auch auf viel Kritik. Denn er beschleunigte den Trend, Industriearbeitsplätze ins Ausland zu verlegen.

Der ehemalige US-Präsident Trump etwa kritisierte seine Amtsvorgänger immer wieder dafür, dass Produkte, die einst im amerikanischen «Rust Belt» hergestellt wurden, heute «made in China» seien. «Viele der ausgelagerten Arbeitsplätze wurden aber nicht nur wegen China ins Ausland verlagert, sondern auch wegen der höheren Kosten im eigenen Land», sagt Merics-Experte Jacob Gunter. «Wäre China wirtschaftlich abgeschottet geblieben, wären viele der Arbeitsplätze, die in den USA und der EU verloren gingen, einfach in andere Länder verlagert worden.»

Ausserdem habe auch der Westen von Chinas Aufstieg profitiert – «da er wesentlich billigere Waren zur Verfügung stellte, was sich erheblich auf die Lebensqualität und die Kaufkraft der amerikanischen und europäischen Verbraucher auswirkte».