Wie ticken Banker? «Diese Leute wissen, wie man das System nutzt»

Von Gil Bieler

26.1.2022

Im Höhenflug: Pierin Vincenz wird 2015 an einer Veranstaltung in St. Gallen mit Applaus bedacht. 
Im Höhenflug: Pierin Vincenz wird 2015 an einer Veranstaltung in St. Gallen mit Applaus bedacht. 
Bild: Keystone/Gian Ehrenzeller

Eine «Tour de Suisse» durch Stripclubs, erst noch auf Geschäftsspesen? Ob der Details im Prozess gegen Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz fragt sich mancher, wie Banker ticken. blue News hat einen gefragt, der es weiss.

Von Gil Bieler

Besuche im Milieu gaben am zweiten Verhandlungstag im Prozess gegen Ex-Raiffeisen-CEO Pierin Vincenz zu reden. Die Staatsanwaltschaft spricht von einer eigentlichen «Tour de Suisse» durch Striplokale, die einzig Vincenz' persönlichem Vergnügen gegolten habe.

Der Angeklagte selbst hatte tags zuvor erklärt, mit solchen «Nachtessen» habe er Kundenbeziehungen gepflegt. Deshalb seien die Ausgaben auch als Spesen verrechnet worden. Kostenpunkt: 200'000 Franken.

Welcher Ansicht sich das Gericht anschliesst, muss sich zeigen, der Prozess geht weiter. Doch viele Normalbürger*innen dürften sich nach der jüngsten Reihe von Bankenaffären wundern: In was für einer Welt leben die Banker eigentlich? blue News hat bei Wirtschaftspsychologe Christian Fichter nachgefragt. 

Pierin Vincenz galt, als er die Raiffeisen-Bank führte, als bodenständige Alternative zu den Zürcher Topbankern. Bodenständige Topbanker, gibt es so etwas überhaupt?

Ja, absolut. Bodenständigkeit ist keine wissenschaftlich definierte Persönlichkeitsstruktur. Dass man den Kontakt zum Personal, zur Kundschaft und zum Job, den man macht, behält, ist nicht ausgeschlossen. Aber es gibt aus der Forschung diverse Hinweise darauf, dass je höher man in der Unternehmensführung aufsteigt, desto eher diese Bodenhaftung verliert – das gilt für die Finanzbranche in besonderem Masse. Das könnte auch Herrn Vincenz passiert sein.

Bei der Anhörung vor Gericht stellte er Ausflüge in Nachtclubs als normale Treffen mit Geschäftspartnern dar. Das dürfte in dieses Bild passen, oder?

Zur Person
zVg

Christian Fichter ist Sozial- und Wirtschaftspsychologe sowie Forschungsleiter der Fachhochschule Kalaidos.

Zumindest liegt die Vermutung nahe, dass er seine Lebens- und Geschäftstätigkeit sehr stark miteinander vermischt hat – was auch nachvollziehbar wäre. Dazu würde auch passen, dass er seine Handlungen in ein für ihn stimmiges Bild verpackt hat. Ich kann mir daher gut vorstellen, dass ihm gar nicht bewusst war, dass er Dinge machte, die rechtlich vielleicht, moralisch aber ganz sicher fragwürdig sind.

Der Fall Vincenz ist der jüngste in einer Reihe von Skandalen der Finanzbranche. Der Präsident der Credit Suisse, António Horta-Osório, musste erst kürzlich wegen eines Verstosses gegen Corona-Regeln abtreten. Fühlen sich Banker ab einer gewissen Karrierestufe unantastbar?

In diese Positionen kommt man nicht aus Zufall. Diese Leute sind sehr leistungsorientiert, motiviert, intelligent, gut vernetzt. Sie wissen, wie man das System nutzt, um in diesem Spiel zu reüssieren. Daraus entsteht zweierlei. Erstens das Gefühl von Sicherheit im Sinne von: «Mir kann nichts passieren, ich habe auch bisher alles geschafft.» Und zweitens die Haltung: «Für mich gelten Sonderregeln.» Man fühlt sich als Superstar. In Staaten wie Russland oder Südkorea kann man tatsächlich schalten und walten, wie man will, und auch in der Schweizer Wirtschaft gibt es vereinzelt diese Haltung, was aber schädlich und falsch ist.

Schweizer Banken und ihre Skandale

  • Die Credit Suisse war in den letzten Jahren das Sorgenkind der Schweizer Bankenbranche. Anfang 2021 verlor sie nach der Pleite des Finanzdienstleisters Greensill drei Milliarden Franken.
  • Nur wenige Wochen später schickte der Zahlungsausfall des Hedgefonds Archegos Capital die CS-Aktie auf Tauchfahrt – sie sackte im Laufe eines Tages zwischenzeitlich um fast 15 Prozent ab. Der Verlust belief sich auf mehr als vier Milliarden Franken.
  • Zuvor hatte eine Bespitzelungsaffäre die CS belastet: Die Konzernleitung hatte den Manager Iqbal Khan monatelang beschatten lassen.
  • Nach all den Skandalen sollte ein neuer Präsident die CS wieder auf Kurs bringen. Doch António Horta-Osório musste Anfang Jahr nach nur acht Monaten schon wieder abtreten. Er hatte Coronaregeln missachtet.
  • Auch die UBS erlebte in den vergangenen Jahren einige Turbulenzen. Die Bank hatte sich vor der Finanzkrise stark im US-Hypothekenmarkt engagiert: Nachdem sich die Immobiliendarlehen als Ramschware entpuppten und der globale Finanzmarkt in Schieflache geriet, musste die UBS von Bund und Nationalbank gerettet werden.
  • Einige Jahre später verzockte ein einziger Trader in London an die zwei Milliarden Franken.
  • In Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, den USA und von der EU wurde gegen die UBS wegen Manipulation, Beihilfe zur Steuerhinterziehung sowie Verstössen gegen Geldwäschegesetze ermittelt. Es wurden Bussen, teilweise in Milliardenhöhe, verhängt.

Gibt es auch andere Charakterzüge, die bei Führungspersonen häufiger auftreten?

Absolut. Besonders oft ist hier von der sogenannten toxischen Triade die Rede, das ist eine Kombination aus drei Persönlichkeitseigenschaften: Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie auf einem nicht klinisch relevanten Level.

Können Sie diese Begriffe etwas genauer erklären?

Mit Narzissmus ist Selbstverliebtheit gemeint. Machiavellismus meint ein Verhalten, bei dem ich andere ausnutze und blende. Und unter nicht klinischer Psychopathie versteht man eine gewisse Ruchlosigkeit, Gewissenlosigkeit. Menschen, bei denen diese Persönlichkeitsdimensionen stark ausgeprägt sind, findet man häufiger in Führungsetagen. Der Grund ist: Sie können sich in einem harten Wettbewerb tendenziell besser durchsetzen.

Diese Kultur des Wettkampfs, des Sich-mit-anderen-Messens, wird auch in Filmen wie «Wall Street» dargestellt. Das ist also mehr als nur ein Hollywood-Klischee?

Das ist so. Einzelnen Branchen oder Unternehmensstufen werden ja sehr häufig bestimmte Eigenschaften nachgesagt. Oft ist nichts dran, aber im Falle der Finanzbranche schon. Wobei man sehen muss: Selbstverständlich sind nur wenige Banker schamlose Lügner und Betrüger. Aber wenn man Banker als Gesamtheit mit anderen Berufsgruppen vergleicht, dann gibt es eine statistisch stärkere Ausprägung.

Und das hat Folgen: Gibt es in einer Gruppe eine Verschiebung Richtung mehr Psychopathie oder mehr Narzissmus, dann werden diese Werte immer extremer, je weiter man die Karrierestufe hochklettert. Wer etwa weniger psychopathisch ist, wird sich nicht durchsetzen, einfach weil jemand anderes ruchloser ist und bereit, zu krasseren Massnahmen zu greifen.

Das sei aber nicht spezifisch für die Finanzbranche, haben Sie eingangs gesagt.

Das gilt in jeder Organisation, egal, ob im Investmentbanking oder bei einer Organisation, die Altkleider für Bedürftige sammelt. Überall, wo Menschen zusammenarbeiten, müssen wirtschaftliche Ziele erreicht werden, damit die Organisation überleben kann. Und auch in der Freiwilligenarbeit und in linken Kulturverbänden steigen dieselben Persönlichkeitstypen auf – nur ist dort der Kollateralschaden bei einem Skandal viel kleiner als bei einer Bank.

Wir reden bisher vor allem über Männer. Weisen Frauen in Führungspositionen dieselbe Neigung zur toxischen Triade auf?

Nein, bei Frauen ist die Ausprägung weniger stark. Im Allgemeinen haben Frauen eine andere Persönlichkeitsstruktur, sie sind umgänglicher und kommunizieren besser. Auch Frauen, die es in Führungspositionen schaffen, weisen im Vergleich zu anderen Frauen stärkere Narzissmus- und Machiavellismus-Werte auf. Ob diese vergleichbar sind mit jenen der Männer, dazu ist mir keine Studie bekannt.

Haben es Frauen schwerer, in der Finanzbranche aufzusteigen?

Das muss nicht zwingend so sein. Es gibt auch Massnahmen, die ihren Aufstieg begünstigen, etwa Frauenquoten – ob explizit oder informell.

Was meinen Sie mit informell?

Wenn Unternehmen keine Quote einführen, aber vielleicht aus Gründen der Aussenwahrnehmung darum bemüht sind, dass es auch Frauen in der Führungsetage hat. Das ermöglicht es, dass auch Frauen mit weniger stark ausgeprägter toxischer Triade den Aufstieg schaffen können.

Welche Rolle spielt Geld als Motivationsquelle für Banker?

Selbstverständlich ist Geld einer der Haupttreiber, weshalb jemand in die Finanzbranche einsteigt. Geld ist etwas unglaublich Wichtiges und Faszinierendes, das unsere Gesellschaft prägt und extrem weit gebracht hat. Darum: Ja, das Interesse an Geld ist bei Bankern aussergewöhnlich stark ausgeprägt, alles andere wäre vollkommen verkehrt.



Und wo kippt dieses Interesse an Geld in Gier?

Gier ist ein schwieriger Begriff. Menschen haben eine angeborene Neigung, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Musiker sind gierig nach Auftritten und Applaus, und Banker sind nun einmal fasziniert von Geld. Ich würde das nicht unbedingt als schlecht ansehen. Problematisch wird es dann, wenn man aus Interesse am Geld die Grenzen des Moralischen oder Legalen überschreitet. Was immer wieder passiert.

Wie liesse sich dieser Verlockung begegnen?

Mit harten Kontrollen und Sanktionen für die oberste Riege in der Finanzbranche. Natürlich gäbe es die nötigen Kontrollinstanzen, doch diese funktionieren oft nicht, weil ebendiese Spieler wissen, wie sie das System ausnutzen können. Da braucht es Reformen. Und was es ausserdem braucht: eine verbesserte Selektion bei der Personalauswahl. Es geht nicht, dass man diese Topleute anhand von Empfehlungen auswählt, ganz ohne psychologische Eignungstests durchzuführen. Das passiert viel zu oft und ist grob fahrlässig, weil den Banken dadurch enormer Schaden entsteht.