Banken-Experte zum Fall Vincenz «Wir haben gerade das Gefühl, wir seien die Schlimmsten»

Von Andreas Fischer

26.1.2022

Pierin Vincenz: «Kein Kommentar»

Pierin Vincenz: «Kein Kommentar»

Im Theatersaal des Zürcher Volkshauses ist der Prozess rund um den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz am Dienstagvormittag gestartet. Der Verteidiger von Vincenz hat zu Beginn gleich eine Verschiebung des ganzen Prozesses gefordert. Während der Pause am Vormittag hat Vincenz mit seinem Verteidiger den Gerichtssaal verlassen. Einen Kommentar zum Prozess wollte er nicht geben.

25.01.2022

Der ehemalige Raiffeisen-CEO Pierin Vincenz steht wegen mutmasslichen Betrugs vor Gericht: Welchen Einfluss haben derartige Bankenskandale auf die Reputation des Finanzplatzes Schweiz? Ein Experte klärt auf.

Von Andreas Fischer

In Zürich hat der Prozess gegen Pierin Vincenz begonnen. Der ehemalige Raiffeisen-CEO steht wegen des Vorwurfs des Betrugs und der Abrechnung von Privatausgaben als Geschäftsspesen vor Gericht.

Der grösste Wirtschaftsprozess der Schweiz seit 20 Jahren wirft einmal mehr kein gutes Licht auf den Finanzplatz Schweiz, der immer wieder von Skandalen, Affären und Streitigkeiten mit Steuerbehörden auf der ganzen Welt erschüttert wird.

Verliert der Finanzplatz seine Glaubwürdigkeit und damit auch an Bedeutung? Durch den Prozess gegen Pierin Vincenz und vier Mitbeschuldigte wahrscheinlich nicht, sagt Wirtschaftsrechtsprofessor Peter V. Kunz im Interview mit blue News.

Zur Person
Bild: zVg

Wirtschaftsrechtsprofessor Peter V. Kunz ist geschäftsführender Direktor am Institut für Wirtschaftsrecht der Universität Bern und war von 2015 bis 2020 Dekan der juristischen Fakultät.

Welche Auswirkungen hat der Fall Vincenz auf die Glaubwürdigkeit der Raiffeisen-Banken? Interessiert es jemanden, wenn der Topmanager in ein Striplokal geht?

Der Hauptvorzug der Raiffeisen ist die gute lokale Verankerung. Die meisten Kunden werden sich sagen: «Mich interessiert die Raiffeisen hier vor Ort mit dem Herrn Müller oder der Frau Stadelmann. Die haben mit dem Vincenz ja nichts zu tun.» Damit kann man sich als Genossenschafter auch ein Stück weit emotional distanzieren von der Affäre.

Seit Jahren sage ich übrigens in meinen Vorlesungen, dass Genossenschaften keine besseren Banken als Aktiengesellschaften sind. Das führt immer mal wieder zu Protesten. Ich sehe es daher mit Interesse, dass Skandale keine Erbsünde von Aktiengesellschaften sind, sondern auch bei Genossenschaften vorkommen.



Die Affäre Pierin Vincenz ist die aktuellste in einer langen Reihe von Skandalen, Affären und Streitigkeiten mit weltweiten Steuerbehörden: Muss man sich Sorgen um den Finanzplatz Schweiz machen?

Nein, das muss man nicht. Der Finanzplatz ist nach wie vor stabil. Die Reputation leidet zwar immer wieder durch einzelne Skandale und Skandälchen, aber was dabei in der Schweiz gern übersehen wird: An anderen Finanzplätzen gibt es ebenso Skandale und Skandälchen, etwa in Deutschland oder in den USA. Diese internationale Dimension geht bei uns oft verloren: Wir sind schon sehr Schweiz-zentriert und haben nun gerade wieder einmal das Gefühl, wir seien die Schlimmsten. Dabei steht die Schweiz im Vergleich mit anderen Finanzplätzen nach wie vor sehr gut da.

Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz muss sich im grössten Wirtschaftsprozess seit der Swissair-Pleite vor dem Zürcher Bezirksgericht verantworten.
Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz muss sich im grössten Wirtschaftsprozess seit der Swissair-Pleite vor dem Zürcher Bezirksgericht verantworten.
KEYSTONE

Welchen Schaden hat die Reputation der Branche in den vergangenen Jahren genommen?

Die internationalen Kunden nehmen vor allem die Themen zur Kenntnis, die sie im deutschen «Handelsblatt», der «Financial Times» oder im «Wall Street Journal» lesen. Dort ist es nach wie vor eher selten, dass über schweizerische Skandale berichtet wird. Und wenn, nimmt man das auch eher mit einem gewissen Lächeln zur Kenntnis und nicht mit dem Gefühl, der schweizerische Finanzplatz sei plötzlich löchrig oder nicht mehr sicher.

Schweizer Banken und ihre Skandale

  • Die Credit Suisse war in den letzten Jahren das Sorgenkind der Schweizer Bankenbranche. Anfang 2021 verlor das Geldhaus nach der Pleite des Finanzdienstleisters Greensill drei Milliarden Franken.
  • Nur wenige Wochen später schickte der Zahlungsausfall des Hedgefonds Archegos Capital die Aktie der Bank auf Tauchfahrt – sie sackte im Laufe eines Tages zwischenzeitlich um fast 15 Prozent ab. Der Verlust belief sich auf mehr als vier Milliarden Franken.
  • Zuvor hatte eine Bespitzelungsaffäre die CS belastet: Die Konzernleitung hatte den Manager Iqbal Khan monatelang beschatten lassen.
  • Nach all den Skandalen sollte ein neuer Präsident die CS wieder auf Kurs bringen. Doch António Horta-Osório musste Anfang Jahr nach nur acht Monaten schon wieder abtreten. Er hatte Coronaregeln nicht beachtet.
  • Auch die UBS erlebte in den vergangenen Jahren einige Turbulenzen. Die Bank hatte sich vor der Finanzkrise stark im US-Hypothekenmarkt engagiert: Nachdem sich die Immobiliendarlehen als Ramschware entpuppten und der globale Finanzmarkt in Schieflache geriet, musste die UBS von Bund und Nationalbank gerettet werden.
  • Einige Jahre später verzockte ein einziger Trader in London an die zwei Milliarden Franken.
  • In Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, den USA und von der EU wurde gegen die UBS wegen Manipulation, Beihilfe zur Steuerhinterziehung sowie Verstössen gegen Geldwäschegesetze ermittelt. Es wurden Bussen, teilweise in Milliardenhöhe, verhängt.

Themen wie die Beschattungsaffäre bei der CS oder der Rücktritt von CS-Präsident António Horta-Osório nach wenigen Monaten interessieren die internationalen Kunden also wenig?

Generell sind personalisierte Themen weniger schädlich. Bei der Berichterstattung geht es häufig um Kleinigkeiten. Der Rücktritt von CS-Präsident António Horta-Osório wurde zwar prominent in der internationalen Presse aufgenommen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass deswegen auch nur ein einziger Kunde gesagt hat: Es stimmt etwas nicht mehr in der Schweiz. So etwas wird meistens als Besonderheit der Schweiz betrachtet.

Wie sieht es denn aus, wenn es um strukturelle Fragen geht? Im vergangenen Jahr gab die CS durch Fehler im Risikomanagement zu reden und machte durch die Greensill-Affäre und den zahlungsunfähigen Hedgefonds Archegos Capital Milliardenverluste.

Da schaut es natürlich ein bisschen anders aus. Archegos und Greensill waren Themen, die international zu einem ernsthaften Stirnrunzeln führten. Ebenso wie der ganze Komplex um das Bankkundengeheimnis und Bussen gegen schweizerische Banken. Das hat dem Finanzplatz durchaus geschadet, zumindest temporär.



Das Bankkundengeheimnis war jahrzehntelang der grösste Trumpf der Schweizer Banken: Mit dem Wegfall wurde eine dauerhafte Beschädigung des Finanzplatzes befürchtet.

Die Aufhebung des fiskalischen Steuergeheimnisses ist heute nicht mehr wirklich ein Problem für den Finanzplatz Schweiz. Unser Rechtsstaat mit den zugänglichen Gerichten, mit der politischen Ruhe und Stabilität zieht nach wie vor internationale Kunden und Investoren an.

Das müssen Sie bitte erklären.

Klar, die Bastion Schweiz, diese Burg des Bankkundengeheimnisses, die wurde geschliffen: durch die USA, durch die EU, durch die OECD. Das hat bei Kunden, die sich gern hinter dem Bankkundengeheimnis versteckt haben, zu einem Nasenrümpfen geführt. Aber: Es gibt keine wirklichen Alternativen, wo man das Geld verstecken kann. Das haben internationale Steuerbetrüger durchaus erkannt. Es gibt kaum noch seriöse Staaten, in denen Steuerflucht möglich ist. In den Staaten, in denen es noch geht, kann man davon ausgehen, dass das Justizsystem derart korrupt ist, dass man sein Geld dort zwar verstecken kann, es aber möglicherweise verliert.

Insofern hat die Schweiz zwar gelitten, weil sie als Steuerversteck nicht mehr attraktiv war. Aber die entsprechenden Personen haben ihr Geld doch wieder hergebracht, weil die Schweiz als Rechtsstaat ein gutes Renommee hat.



In den vergangenen Jahren sind viele enttäuschte Kunden wegen der Skandale bei den Grossbanken zur Raiffeisen gewechselt: Gehen die jetzt wegen der Affäre Vincenz alle zurück?

Davon ist nicht auszugehen. Die Grossbanken haben nach wie vor ihre Reputationsprobleme mit Verwaltungsräten und Beschattungsaffäre. Wer enttäuscht zur Raiffeisen gegangen ist, der flucht jetzt zwar und macht die Faust im Sack, aber er geht wegen Pierin Vincenz nicht zur UBS oder CS zurück. Und andere Möglichkeiten gibt es nicht, auch weil Schweizer gewisse Hemmungen haben, zu einer Auslandsbank zu gehen: Man wechselt nicht plötzlich von Raiffeisen zur Deutschen Bank oder zu Morgan Stanley. Man bleibt bei einer Schweizer Bank. Also wohin sollen Sie gehen? Man kann sein Geld ja nicht unter der Matratze verstecken.

Die Kantonalbanken könnten profitieren …

Die sind natürlich die grosse Konkurrenz der Raiffeisen. Vielleicht geht auch der eine oder andere, der von der UBS zur Raiffeisen gewechselt ist, nun zu einer Kantonalbank. Aber das dürften wenige sein. Es würde mich wirklich überraschen, wenn es jetzt eine grosse Wechselwelle von der Raiffeisen hin zu den Kantonalbanken geben würde. Die Kantonalbanken sind wegen der Staatsgarantie vor allem attraktiv in Krisen. Sie profitierten zum Beispiel von den Wirren um die Rettung der UBS im Zuge der Subprime-Krise 2008. Nicht zu vergessen: Es gibt auch immer mal wieder kleine Affären bei den Kantonalbanken. Vor dem Hintergrund profitiert Raiffeisen davon, dass man mangels Alternativen bei Raiffeisen bleibt oder bleiben muss.