Enttäuscht von der Wildschwein-Löwin «In Berlin ergibt 1 und 1 manchmal 3»

Von Michael Angele, Berlin

22.7.2023

Wildschwein statt Löwin: Entwarnung in Kleinmachnow

Wildschwein statt Löwin: Entwarnung in Kleinmachnow

Ganz Berlin ist in Aufruhr und sucht nach der Löwin von Kleinmachnow. Und jetzt diese Meldung: Die gesuchte Löwin ist wohl doch ein Wildschwein.

21.07.2023

Eine angebliche Löwin hält Berlin zwei Tage lang in Atem. Auch unseren Autor, der in der deutschen Hauptstadt lebt. Dass die Raubkatze nun ein schnödes Wildschwein sein soll,  findet er ziemlich bedauerlich.

Von Michael Angele, Berlin

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Mutmasslich war es dann doch nur ein Wildschwein und keine Löwin, das in Berlin zwei Tage lang für grossen Rummel sorgte.
  • Während Behörden und Medien wegen der Verwechslung mit Grossaufgeboten unterwegs sind, bleibt die Bevölkerung gelassen.
  • Für unseren Autor, einen Wahl-Berliner aus Bern, ist die ganze Angelegenheit eine «Geschichte aus der Hitzewelle».

Um die Dimension des Falls zu verdeutlichen: Letzte Nacht haben mich Helikoptergeräusche aus dem Schlaf gerissen (bei offenem Fenster, ein Überbleibsel aus der Hitzeperiode). Ich dachte sofort an die Suche nach der «Löwin», die von einem Bürger Donnerstagnacht südlich von Berlin gesichtet und mit dem Handy gefilmt wurde. Obwohl das eigentlich nicht sein konnte: Ich wohne in Pankow, im nördlichen Berlin, und die Löwin wurde 30 Kilometer entfernt gesehen. Irgendwo zwischen Zehlendorf, wo Berlin anfängt, und Kleinmachnow, wo Brandenburg aufhört, sollte sie sich rumtreiben.

Zum Autor: Michael Angele

Der Berner Michael Angele liefert regelmässig eine Aussenansicht aus Berlin – Schweizerisches und Deutsches betreffend. Angele schreibt für die Wochenzeitung «Der Freitag». Er ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Deutschlands Hauptstadt. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt.»

Bis zu 320 Polizisten haben sie gesucht. Die Polizisten sind mit Maschinenpistolen durch den Wald gelaufen, es kam sogar ein gepanzertes Fahrzeug zum Einsatz. Die Polizei warnte die Menschen, vor die Türe zu gehen, wer zur Arbeit müsse, solle zum Auto rennen. Ein Wunder, dass die S-Bahn noch bis ins benachbarte Potsdam fuhr. Konnte man ausschliessen, dass die Löwin auf den fahrenden Zug aufspringen würde?

Die Anwohner allerdings schienen die Gefahr nicht besonders ernst zu nehmen. Sie hätten keine Angst, sagten Leute, die vom Radio befragt wurden. Es stünden einfach zu viele Schaulustige rum, da lasse sich doch keine Löwin blicken. Auch ein Reporter, der vor Ort berichtete, wurde von seinem Kollegen gefragt, ob er nicht Angst habe. Nein, er stünde ja direkt neben dem Auto, sagte er. Vermutlich mit laufendem Motor.

Nichts ist deprimierender, als dieses Ende der Geschichte

Gehört hatte ich das auf meinem Berliner Liebingsradiosender, Radio Eins. Der Sender steht nicht im Verdacht, besonders boulevardesk zu berichten. Aber auch bei ihm war die Suche nach der Löwin Stunde um Stunde die Hauptnachricht. Und wenn ich mit Freunden sprach, gab es natürlich nur ein Thema: die Löwin.

Wie zuletzt vor vielen Jahren die Suche nach dem Kaufhauserpresser Arno Funke alias Dagobert, der bei rund 30 versuchten Geldübergaben der Polizei durch die Lappen ging, hat die Suche nach der Löwin Berlin in Atem gehalten. Besser gesagt, die Suche nach «der Löwin». Man muss es ja in Anführungszeichen schreiben. Jetzt, wo so gut wie sicher ist, dass die «Raubkatze» (Polizei) auf dem Video ein «Wildschwein» (Polizei) ist. Vielleicht auch zwei Wildschweine, wie ein Experte meint.

Wir haben das Video X-Mal gesehen. Und nun schauen wir es nochmal. Ein Wildschwein, zwei Wildschweine? Echt jetzt, Experten? Denn nichts könnte deprimierender sein, als ein solches Ende der Geschichte. Wildschweine sind in Berlin das Allergewöhnlichste und das Allerärgerlichste. Fragen Sie mal einen Gartenbesitzer aus den Randbezirken.

Kaukasischer Schäferhund? Lieber doch nicht.

Man könnte natürlich sagen, dass auch die Rolle der Medien ärgerlich ist. Dass sie nicht sauber recherchiert haben. Dass sie in ihrer Sensationsgier kritische Stimmen nicht hören wollten. Immerhin hatte der «Spiegel» schon bald einen Zirkusdirektoren zitiert, der meinte, auf dem Video sei keine Löwin zu sehen. Er sagte aber auch nicht, es sei ein Wildschwein zu sehen. «Es könnte sich um einen kaukasischen Schäferhund handeln» sagte er.

Also haben wir «kaukasischen Schäferhund» in die Google-Bildsuche eingegeben. Ach nö. Dann doch eher eine Löwin. Zumal man in diesem Fall Rückendeckung durch die Polizei hatte. Die deutsche Polizei ist generell sehr vorsichtig geworden mit Informationen. Auf einer Pressekonferenz sagt sie manchmal nicht mehr als «eine Person wird verdächtigt». Da musst du als Presse schauen, wo du bleibst.

Diesmal sagte sie aber wörtlich: «Nach Prüfung des Videomaterials handelt es sich nach einer ersten Einschätzung bei dem Wildtier um eine Löwin». Bald darauf bestätigte die Polizei sogar weitere «Sichtungen». Okay, manchmal sagte sie auch «Raubkatze». Aber man kann ja 1 und 1 zusammenzählen

Wenn es doch bloss kein Wildschein wäre ...

Aber ich will auch die Polizei nicht anschuldigen. Unsere Fantasie wurde nicht zuletzt durch den Fundort angeregt. Kleinmachnow ist ein Villenvorort von Berlin, der auf Brandenburger Gebiet liegt. Seit zwei Tagen weiss man so recht, was das bedeutet «auf Brandenburger Gebiet liegen»: Anders als in Berlin dürfen hier Wildkatzen von Privatleuten gehalten werden.

In Kleinmanchow steht die ehemalige Villa von Bushido, und der Remmo-Clan hat dort Immobilienbesitz. Der Remmo-Clan ist durch einen spektakulären Juwelenraub bekannt geworden. Wer Juwelen raubt, hält auch Löwen, oder? Immerhin gibt es ein Foto von Clan-Mitgliedern mit einem Tiger (okay es ist ein Tiger-Baby). Und es gibt den Sohn des Clanchefs, der auf Instagramm gepostet hat: «Wenn jemand was weiss, bitte erst mir Bescheid geben, dann führen wir die Löwin in ihr Gehege zurück, bevor irgendein Trottel die abknallt.»

Jetzt kann man wieder 1 und 1 zusammenzählen. Oder könnte man. Wenn es doch bloss kein Wildschwein wäre. In Berlin ergibt 1 und 1 manchmal 3. Und nicht nur hier, sondern überall dort, wo eine heisse Sonne zu lange auf die Köpfe der Menschen geschienen hat. Denn das ist die Suche nach der Löwin, die keine sein darf, am Ende wohl: Eine Geschichte nicht mehr wie früher «aus dem Sommerloch», sondern eine aus der Hitzewelle.

Es war dann wohl doch keine Löwin, die Berlin zwei Tage lang in Atem hielt. Wohl eher ein Wildschwein.
Es war dann wohl doch keine Löwin, die Berlin zwei Tage lang in Atem hielt. Wohl eher ein Wildschwein.