Unter Drogen vergewaltigt «Hier wird nicht geschwiegen» – Gisèle P. will kein Opfer sein

tchs

5.9.2024

Gisèle P. und ihr Anwalt Stéphane Babonneau wollen Gerechtigkeit.
Gisèle P. und ihr Anwalt Stéphane Babonneau wollen Gerechtigkeit.
Bild: AFP

Der Vergewaltigungsprozess im französischen Avignon findet vor den Augen der Öffentlichkeit statt. Das Opfer, Gisèle P., stellt sich ihren Peinigern vor Gericht – und erlangt so Handlungsfähigkeit.

tchs

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Über neun Jahre hinweg hat in Frankreich ein Mann seine Frau immer wieder betäubt und von zahlreichen Männern missbrauchen lassen.
  • Der Mammutprozess in Avignon findet vor der Öffentlichkeit statt, weil das Opfer das so möchte.
  • Gisèle P. will, dass die Welt weiss, was sie alles durchmachen musste.
  • Ihre Anwälte stellen klar: Scham sollten nur die Täter empfinden.

Der polizeiliche Untersuchungsbericht legt nahe, dass Gisèle P. das Opfer von 92 Vergewaltigungen im Beisein ihres Ehemannes ist. Dominique P. hat sie betäubt und liess sie zwischen 2011 und 2020 von anderen vergewaltigen, 83 Männer sollen beteiligt gewesen sein, wie unter anderem das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» berichtet. Doch die Frau wirkt fest entschlossen, aus der Opferrolle auszubrechen.

Den Fall, der aktuell im französischen Avignon verhandelt wird, erhebt Gisèle P. zum emanzipatorischen Befreiungsschlag. Sie hört sich alle grausamen Details an, stellt sich im Gerichtssaal ihren Peinigern. Es geht für sie nicht darum, den Prozess lediglich zu überstehen. Erst im Jahr 2020, als alles aufflog, erfuhr sie selbst von den Gründen für ihre körperlichen und seelischen Verletzungen. Und nun sollen auch alle anderen erfahren, was ihr angetan wurde.

Anwalt: «Die Schande gehört das Lager der Täter»

»Sie schämt sich nicht für das, was geschehen ist. Es ist auch eine Art zu sagen: Die Schande gehört in das andere Lager, in das der Täter.», stellt Anwalt Stéphane Babonneau laut «Spiegel» klar.

Üblicherweise finden solche Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, das Gericht folgte jedoch der Bitte des Opfers, Zuschauer:innen, Gerichtszeichner:innen und Journalist:innen zuzulassen. Auch Gisèle P.s Kinder sind bei der Verhandlung anwesend. Der Antrag der Verteidigung, die Öffentlichkeit am ersten Prozesstag unter Verweis auf Persönlichkeitsrechte auszuschliessen, wurde abgelehnt.

«Meine Mandantin möchte, dass das, was sie erlebt hat, bekannt wird, sie muss sich nicht verstecken», wird einer der Anwälte des Opfers auf X von einer Journalistin des französischen Radiosenders RMC zitiert. Das, was sie in Fülle erlebt hat, solle offengelegt werde. «Sexuelle Gewalt wird in diesem Land durch Schweigen gewürdigt», erklärt ein weiterer Anwalt. «Hier wird nicht geschwiegen, sondern alles öffentlich gemacht, wie von den Zivilparteien gefordert.»

Gisèle P. über ihren Mann: «Er widert mich an»

Gisèle P. erklärte der Presse, sie habe ihre Gefühle dem Richter in der Anhörung vor dem Prozess geschildert. «Er widert mich an», habe sie über ihren Ehemann Dominique gesagt. «Ich fühle mich schmutzig, beschmutzt, betrogen. Es war ein Tsunami, ich wurde von einem Hochgeschwindigkeitszug erfasst.»

Vor der Presse und der Familie des Opfers: Mitangeklagte sprechen mit einer Anwältin im Gerichtsgebäude.
Vor der Presse und der Familie des Opfers: Mitangeklagte sprechen mit einer Anwältin im Gerichtsgebäude.
Foto: sda

Die Öffentlichkeit wird bis zum Prozessende am 20. Dezember weiter an diesem in jeder Hinsicht aussergewöhnlichen Fall teilhaben. Es ist zu erwarten, dass weitere schreckliche Details ans Licht kommen werden. Auf Computern und Festplatten hat Dominique P. seine abscheulichen Taten hinterlegt, 20'000 Foto- und Videodateien.

50 Täter sind identifiziert

Gisèle P. wird das alles ertragen müssen, ebenso wie die mutmasslichen Täter, die sich der Öffentlichkeit nicht entziehen können. 50 Vergewaltiger sind bereits identifiziert, das Opfer sitzt mitten unter ihnen.

Es sind Männer, die aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft kommen, Feuerwehrmänner, Klempner, Informatiker und Familienväter. Die Anwesenden sollen hören, wie sie sich für etwas zu rechtfertigen versuchen, wofür es keine Rechtfertigung gibt. Dem Ehemann und den anderen Männern drohen im Falle einer Verurteilung mehr als 20 Jahre Haft.