Augenzeugin berichtet aus Griechenland«Es ist die totale Zerstörung»
Von Oliver Kohlmaier
6.9.2023
Griechenland: Schwere Probleme wegen Unwettern und Starkregen
Menschen kommen in den Fluten um, Felder verwandeln sich in Seen, Bäche in reissende Flüsse. Strassen stehen hüfthoch unter Wasser, Häuser und Geschäfte laufen voll.
06.09.2023
Die griechische Hafenstadt Volos durchlebt gerade eine der schwersten Katastrophen ihrer Geschichte. Niemand glaubte, dass es hier jemals so viel regnen könnte. Eine Augenzeugin berichtet.
Von Oliver Kohlmaier
06.09.2023, 19:06
06.09.2023, 19:24
Von Oliver Kohlmaier
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
In weiten Teilen der Region Thessalien in Griechenland haben Regenfälle katastrophalen Ausmasses verheerende Schäden angerichtet.
Besonders schwer getroffen hat es die Hafenstadt Volos am Ägäischen Meer.
Die Bewohnerin Christina, eine 40-jährige Leherin, erzählt von ihren Eindrücken.
Christina weiss, wie viel Glück sie und ihre Familie hatte. Drei Tage nach Beginn massiven Unwetter ist die 40-jährige gleichwohl noch immer schockiert von dem, was in den vergangenen Tagen über ihr geliebtes Volos hereinbrach. «Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist», erzählt sie — über das nun wieder einigermassen funktionierende Mobilfunknetz.
Die Lehrerin lebt im Zentrum von Volos und hat die Katastrophe hautnah miterlebt. Was sie gesehen hat, sagt sie, hat sich niemand auch nur annähernd vorstellen können. «Wir bekommen hier sonst im ganzen Jahr nicht so viel Regen, wie jetzt gefallen ist.»
Die Behörden und Bewohner wussten, was auf sie zukommt. Aber auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten.
Ein einziges Donnergrollen
Am Montagabend geht es los, erzählt Christina. Es regnet so stark, wie sie es noch nie erlebt hat, und es hört nicht mehr auf. Hinzu kommen unzählige Blitze, die ganze Nacht ist ein einziges Donnergrollen.
Christina berichtet davon, wie der zuvor ausgetrocknete Fluss binnen kürzester Zeit gleichsam reaktiviert wurde, und weit über sein Flussbett hinaus alles mitnahm. Schlamm, Möbel, Mülltonnen, Autos. Noch immer kann kaum jemand die Schäden begutachten, weil es vielerorts kein Durchkommen gibt.
Wassermassen von den Bergen hinab
Alles hat sich innert kürzester Zeit vollgesaugt mit Wasser, sagt Christina, hektisch nach Worten suchend, um auf Englisch ihre Fassungslosigkeit auszudrücken. «Es ist die totale Zerstörung», sagt sie schliesslich.
«Ich lebe im fünften Stock und hatte daher Glück. Aber alle Häuser in Volos, die nicht in den Bergen stehen, wurden überschwemmt.» Unweit ihres Wohngebäudes kamen die Wassermassen von den Hängen hinab, beladen mit allem, was im Weg steht.
Während Christinas Habseligkeiten verschont blieben, hatte ihr Bruder Nikos weniger Glück. Er lebt mit dessen Frau Sara 12 Kilometer von Christina entfernt in Ano Lechonia in einem neu bezogenen Haus am Fusse eines Berges.
Zügelkisten schwimmen im Garten
Am Dienstagmorgen meldet er sich, als das Mobilfunknetz kurzzeitig funktionierte. Der Keller stehe unter Wasser, sagt er. Möbel und elektrische Geräte hinüber, im Garten schwimmen noch nicht ausgepackte Zügelkisten. Sara, Christinas Schwägerin, sitzt nun bei ihr und berichtet: «Mein Mann versuchte, zur Garage zu schwimmen, aber es war nichts zu machen». Das Garagentor brach schliesslich unter dem Druck zusammen und es gelangte noch mehr Wasser ins Haus.
In Christinas Familie hat es Nikos und Sara am Schwersten getroffen. Aber auch sie hatten Glück, wie sie nicht müde werden zu betonen. Sara erzählt, viele hätten alles verloren, von den Todesopfern und vielen Verletzten ganz zu schweigen.
«Ohne Strom kein Wasser»
Während Christina und ihre Schwägerin von ihren Eindrücken erzählen, wird die Bergung eines weiteres Todesopfers vermeldet. Im Dorf Paltsi auf dem Berg Pilion im Osten der Hafenstadt Volos habe die Feuerwehr die Leiche einer älteren Frau geborgen.
Achilleas Mpeos, Bürgermeister von Volos, wirkt genauso fassungslos wie Christina und vermutlich jeder, der die Katastrophe gerade miterlebt. «Wir können die Strom- und Wasserversorgung nicht wieder herstellen», sagt er einem griechischen TV-Sender. «Die Transformatoren stehen unter Wasser, es ist gefährlich, überhaupt zu versuchen, dort heranzukommen.» Und ohne Strom gebe es kein Wasser, auch die Kläranlagen funktionierten nicht.
Eine der Ausfallstrassen nahe Volos ist praktisch nicht mehr da. «Die Strasse besteht nur noch aus Löchern». Und zwei Tage später sind die Rettungskräfte noch immer schwer zu erreichen, sagt Christina und beeilt sich hinzuzufügen: «Sie kommen einfach nicht hinterher.»
Berg aus Schlamm, Geröll und Felsen
Die Schulen sind auch am Mittwoch noch geschlossen – und sollen es wohl auch am Donnerstag bleiben, sagt Christina, die an einer Volksschule Griechisch unterrichtet – und sich vor allem um die Kinder sorgt. Sie selbst hat wie manche ihrer Mitbürger nach zwei Tagen wieder Strom und Wasser.
Sich fortzubewegen, ist weiterhin hochgefährlich. Die Strassen sind übersät mit allem, was das Wasser mit sich riss. Autos, Möbel, Felsbrocken. «Und es regnet weiter», sagt Christina und seufzt.
Fünf Kilometer ausserhalb von Volos direkt am Meer gibt es nun auch einen neuen Berg: «Einen Berg aus Schlamm, Geröll und Felsbrocken.»