Was kommt noch ans Licht? Das ist bisher über den «Unterschriften-Bschiss» bekannt

gg, sda/tpfi

3.9.2024 - 22:11

Der Skandal um gefälschte Unterschriften für Volksinitiativen erschüttert die Schweiz.
Der Skandal um gefälschte Unterschriften für Volksinitiativen erschüttert die Schweiz.
Symbolbild: Keystone

Kommerzielle Unternehmen sollen beim Sammeln von Unterschriften für Volksinitiativen betrogen haben. Es geht um gefälschte Unterschriften. Die Bundesanwaltschaft ermittelt. Was bisher bekannt ist:

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der mutmassliche Fälscherskandal bei Volksinitiativen erschüttert die Schweiz.
  • Die Bundesanwaltschaft ermittelt.
  • Das Ausmass der Fälschungen kann noch nicht abgeschätzt werden.

Was ist geschehen?

Tamedia-Recherchen deckten am Montagabend auf, dass mutmasslich Tausende Unterschriftendaten für Volksinitiativen gefälscht worden sind. Das Medienportal sprach von einem «Unterschriften-Bschiss», den die Schweiz erschüttere. Das Ausmass der Fälschungen kann nicht abgeschätzt werden. Verschiedene Strafuntersuchungen laufen. Die Meldungen über Verdachtsfälle betreffen in unterschiedlichem Ausmass rund ein Dutzend eidgenössische Volksinitiativen. 

Aus heutiger Sicht liegen laut der Bundeskanzlei jedoch keine belastbaren Indizien vor für die Vermutung, dass über Vorlagen abgestimmt wurde, die nicht rechtmässig zustande gekommen sind.

Wer ist zuständig für das feststellen von gültigen Unterschriften?

Mit Ausnahme des Kantons Genf liegt die Verantwortung bei den Gemeinden. Diese prüfen für jeden Eintrag anhand der zur Feststellung der Identität notwendigen Angaben (Name, Vornamen, Adresse, Geburtsdatum), ob die entsprechende Person im jeweiligen Stimmregister eingetragen ist.

Was ist die Rolle der Bundekanzlei?

Sie prüft die gesammelten Unterschriften und teilt im Anschluss mit, ob eine Volksinitiative oder ein Referendum zustande gekommen ist oder nicht. Nach Einreichung der Unterschriftenlisten vor Ablauf der Sammelfrist durch das Initiativkomitee bei der Bundeskanzlei prüft ein Auszählteam, ob die eingereichten Unterschriftenlisten und Stimmrechtsbescheinigungen den gesetzlichen Anforderungen entsprechen und somit gültig sind. Die Bundeskanzlei steht im regelmässigen Austausch mit Kantonen, Gemeinden und Komitees. Gemäss eigenen Angaben geht die Bundeskanzlei «seit einigen Jahren» gegen mögliche Unterschriftenfälschungen vor.

Was bedeutet das konkret?

Die Bundeskanzlei hat im Jahr 2022 selber Strafanzeige gegen Unbekannt eingereicht und diese Anzeige mehrfach um neue Verdachtsfälle ergänzt, wie sie schreibt. Seit Anfang Jahr wurden der Bundeskanzlei weitere Fälle von auffälligen Unterschriftenlisten gemeldet, bei denen der Verdacht besteht, dass Dritte anstelle der eingetragenen Stimmberechtigten die Unterschriftenlisten ausgefüllt und unterzeichnet haben. Sie bereitet deshalb eine zweite Strafanzeige vor. Ging es zu Beginn schwergewichtig um Unterschriftenlisten aus Gemeinden der Westschweiz, sind seit vergangenem Winter zunehmend auch Verdachtsmeldungen aus der Deutschschweiz zu verzeichnen.

Gibt es stärkere Kontrollen?

Ja. Im Rahmen ihrer Aufgaben bei der Auszählung der Unterschriften führt die Bundeskanzlei nach eigenen Angaben verstärkte Kontrollen durch bei Listen aus Kantonen, aus denen ihr Hinweise auf Unterschriftenfälschungen vorliegen. Die Zahl der von den Gemeinden für ungültig erklärten Unterschriften, die der Bundeskanzlei zur Kenntnis gebracht wurden, lässt laut dem Bund darauf schliessen, dass die Kontrolle der Gültigkeit der eingereichten Unterschriften durch die Gemeinden funktioniert.

Sind weitere Massnahmen geplant?

Die Bundeskanzlei prüft derzeit, ob bei der Prävention, Instruktion, Wissenschaft und Rechtssetzung weitere Sofortmassnahmen angezeigt und nötig sind. Dabei stünden insbesondere ein engmaschigeres Monitoring von Unterschriftensammlungen, die Beratung der beteiligten Kantone, Gemeinden und Komitees sowie mögliche technische Lösungen im Vordergrund. Grundsätzliche Änderungen der geltenden Vorgaben für Unterschriftensammlungen bedürften gesetzlicher Anpassungen, für die letztlich das Parlament zuständig wäre.

Wie lautet die Kritik an der Bundeskanzlei?

Im Kreuzfeuer der Kritik steht nach dem Bericht zu den mutmasslichen Fälschungen die Bundeskanzlei. Er wolle von der Bundeskanzlei erfahren, wann sie was gewusst habe und ob sie von den Kantonen und Gemeinden transparente Informationen erhalten habe, sagte Mitte-Ständerat Daniel Fässler (AI). Er ist Präsident der Staatspolitischen Kommission der kleinen Kammer. Fässler hat ebenso wie weitere kontaktierte Parlamentsmitglieder erst am Montag über die Medien vom möglichen Unterschriftenbetrug erfahren. Auch der Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen, Mitglied der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats, ist verärgert. Die Bundeskanzlei habe von Unregelmässigkeiten gewusst, aber weder sie noch der Bundesrat hätten darüber aktiv kommuniziert, sagte er.

Weshalb hat die Bundeskanzlei nicht schon früher informiert?

Aufgrund des Amtsgeheimnisses und der laufenden strafrechtlichen Verfahren war es der Bundeskanzlei nach eigenen Angaben «nicht möglich, die Öffentlichkeit über dieses Problem zu informieren». Das erste Anliegen sei es, dass allfällige Täter gefasst werden, hält sie fest. Es gelte auch zu vermeiden, dass die Bundeskanzlei mit ihren Informationen die Meinungsbildung zur einen oder anderen Initiative beeinflusse. Sie begrüsse jedoch die Diskussion, die nun angestossen wurde.

Wie reagiert das Parlament?

Verschiedene Parlamentsmitglieder warfen am Tag nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe das vor drei Jahren im Parlament abgelehnte Verbot von kommerziellen Unterschriftensammlungen wieder auf. Bei einem Verbot stellten sich Abgrenzungsfragen, sagte Ständerat Daniel Fässler (Mitte/AI), Präsident der Staatspolitischen Kommission. Nationalrätin Greta Gysin (Grüne/TI) will in der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates den Vorschlag einbringen, bezahltes Sammeln zu verbieten. Bürgerliche zeigten sich aber skeptisch: «Von einem Verbot halte ich nach wie vor nichts», sagte der Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Kleine Gruppierungen würden benachteiligt. Auch SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi will kein Verbot. «Wir haben den Anspruch, die Unterschriften selbst zu sammeln.» Allerdings sei bei Referenden im Gegensatz zu Volksinitiativen die Zeit von hundert Tagen immer sehr knapp und deshalb würde bezahlte Hilfe von referendumsführenden Organisationen wohl eher herangezogen.

Gibt es einen elektronischen Ausweg?

Das Berner Kantonsparlament sieht digitales Unterschriftensammeln als mögliche Chance im Kampf gegen Betrügereien. Der Kanton solle aber nicht vorpreschen, hiess es am Dienstag im Parlament. Die Federführung sollte bei der vom Bund und Kanton getragenen Organisation Digitale Verwaltung Schweiz liegen. Im Parlament wurden Vorteile angesprochen: Eine digitale Unterschrift sei schwieriger zu fälschen als eine von Hand angebrachte, hiess es etwa. Staatsschreiber Christoph Auer räumte ein, dass die digitale Unterschriftensammlung womöglich weniger betrugsanfällig wäre als die physische. Doch gebe es bei E-Collecting andere Gefahren, etwa ausländische Hacker.

Was sagen die Experten?

Experten beurteilen die Berichte zu mutmasslichen Fälschungen beim Sammeln von Unterschriften unterschiedlich. Martin Hilti, Geschäftsführer von Transparency International Schweiz, sagte im Schweizer Radio SRF: «Wenn systematisch und im grossen Stil betrogen wurde, wie das den Anschein hat, dann ist das ein riesiges Problem für unsere Demokratie.»

Es leide das Vertrauen in die Demokratie. Die Behörden müssten gewährleisten können, dass künftig nicht mehr betrogen werden könne. Laut Politgeograf Michael Hermann ist nicht ausgeschlossen, dass über Initiativen abgestimmt wurde, die eigentlich gar nicht zustande gekommen wären. «Aber das letzte Wort hatten die Stimmberechtigten.» Hermann beurteilte den Vorfall deshalb als weniger schwerwiegend als einen Abstimmungsbetrug.

Werden die Vorwürfe erwidert?

Im Tamedia-Bericht erwähnte Initiantinnen und Initianten wehren sich gegen die Vorwürfe. Sie habe mit der aufgeführten Organisation Incop nicht zusammengearbeitet, teilt Pro Schweiz, verantwortlich für die Neutralitätsinitiative, mit. Den «Betroffenheitsaktivismus und Panikmache einiger Politiker» mit der Forderung, Abstimmungen sofort zu stoppen, nannte Pro Schweiz «lächerlich». Gemäss den Berichten soll auch die SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz!» von mutmasslichen Betrügereien betroffen sein. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi wies gegenüber Keystone-SDA diese Aussage zurück: Die SVP Schweiz und die SVP Kanton Zürich als Zuständige hätten Incop nicht mandatiert, betonte er. Incop-Präsident Franck Tessemo seinerseits wies die Betrugsvorwürfe zurück. Es gehe um eine Kampagne gegen ihn, sagte er am Dienstag gegenüber den Tamedia-Portalen.

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