Wolf verfolgt Mensch im Puschlav«Was die Akzeptanz angeht, ist eine Schmerzgrenze erreicht»
Von Gil Bieler
24.7.2022
Kürzlich gab es Mutterkuh-Risse, nun kam in Graubünden ein Wolf einem Menschen gefährlich nahe: Läuft die Situation aus dem Ruder? Adrian Arquint, Vorsteher des kantonalen Amts für Jagd und Fischerei, plädiert für Augenmass.
Von Gil Bieler
24.07.2022, 17:27
25.07.2022, 09:23
Gil Bieler
Herr Arquint, im Puschlav ist ein Wolf einem Menschen minutenlang gefolgt. Das tönt nach einer gefährlichen Entwicklung.
Von einer Entwicklung kann man noch nicht sprechen, wohl aber von einem Vorfall. Diese Situation ist für uns aussergewöhnlich und weicht von einem normalen Verhalten eines Wolfs ab. Ein Jungwolf kann schon mal länger brauchen, bis er vor einem Menschen Reissaus nimmt, doch dieser Wolf ist einer Person gefolgt und hat sie angeknurrt.
Wo genau war denn die betroffene Person unterwegs?
Auf dem Wanderweg, der bei der Zugstation Alp Grüm beginnt.
Gab es schon einmal einen solchen Vorfall?
Einen ähnlichen Fall hatten wir letztes Jahr im Streifgebiet des Beverin-Rudels, wobei die Person damals einen Hund mitgeführt hatte. Das Interesse des Wolfs galt also vielleicht dem Hund. Beim neuen Vorfall im Puschlav klärt der Wildhüter jetzt ab, ob sich das Verhalten des Wolfs erklären liesse. Mögliche Gründe wären, dass der Wolf verletzt oder krank war, oder dass er bei einem Riss gestört wurde. Solche Abklärungen treffen wir jetzt vor Ort.
Weiss man schon, zu welchem Rudel der Wolf gehören könnte?
Das wissen wir noch nicht. Es gibt aber seit einigen Monaten schon Wolfsaktivitäten im Puschlav und auch Nutztierrisse. Wir wissen, dass sich im Gebiet mindestens ein bis zwei Wölfe aufhalten.
Das ist schwierig zu sagen. Wir haben gerade eine Phase des exponentiellen Wachstums der Wolfspopulation – nicht nur in Graubünden, sondern in der ganzen Schweiz und ganz Europa. Das bedeutet: Je mehr Wölfe es gibt, desto grösser ist auch die Möglichkeit, dass sich einzelne Tiere oder Rudel so verhalten, dass es zu Konflikten kommt.
Was können die kantonalen Stellen nun im Puschlav unternehmen?
Wichtig ist es zunächst, die Bevölkerung über Verhaltensregeln zu informieren, sollte es zu einer Begegnung mit einem Wolf kommen. Das kann schon heute auf dem ganzen Kantonsgebiet passieren. Ausserdem müssen wir natürlich vor Ort Abklärungen treffen und beobachten. Vielleicht gibt es wirklich einen Grund, der das Verhalten dieses Wolfes erklärt. Sollte es aber eine Häufung an Vorfällen dieser Art geben, dann müsste man abklären, ob eine Gefährdung des Menschen besteht, und der Kanton müsste zusammen mit dem Bund die möglichen Massnahmen besprechen. Im aktuellen Wolfskonzept zum Beispiel ist die Gefährdung des Menschen nur in Zusammenhang mit einem Rudel geregelt, nicht bei Einzelwölfen. Aber Stand heute hoffe ich, dass es sich dabei um einen Einzelfall handelt.
Bei einer Begegnung mit dem Wolf richtig verhalten
Ruhig stehen bleiben und versuchen, die Situation zu erfassen.
In der Regel ergreift ein Wolf die Flucht. Sollte er das nicht tun: Ruhe bewahren und mit bestimmter Stimme auf sich aufmerksam machen.
Langsam zurückziehen, sich dem Wolf auf keinen Fall annähern – auch nicht für ein Foto. Einen Wolf nie verfolgen.
Den Bereich einer Wurfhöhle meiden.
Wölfe unter keinen Umständen füttern. Essensreste beim Campieren oder Picknicken selbst in kleinen Mengen nicht im Wald entsorgen, da das Wölfe anlocken könnte.
Hunde unter Kontrolle halten und anleinen, da diese von Wölfen als potenzielle Eindringlinge gesehen werden können.
Verhaltensauffällige Wölfe, gerissene Tiere oder Kontakt mit einem Wolf umgehend der Wildhut melden.
Die Wolfspopulation wächst beständig. Wird der Platz knapp?
Da gibt es zwei Ansätze: Aus ökologischer Sicht könnte sich die Wolfspopulation weiterhin alle zwei bis drei Jahre verdoppeln. Wenn es aber um die Akzeptanz der Bevölkerung und der Landwirtschaft geht, ist jetzt sicherlich eine Schmerzgrenze erreicht. Auch aus Sicht des kantonalen Amts für Jagd und Fischerei wäre es wünschenswert, dass wir die Bestände präventiv regulieren könnten, ohne sie zu gefährden. Das macht man auch bei anderen Wildtierarten wie etwa dem Steinbock so. Nach dem geltenden Gesetz müssen aber erst Konflikte oder ein grosser Schaden passieren, damit wir intervenieren können. Das ist in der aktuellen Besiedlungsphase nicht mehr zeitgemäss. Wir bräuchten Instrumente, um früher eingreifen zu können. Da ist der Gesetzgeber gefordert.