Corona-Schlaufe«Versuchen Sie nicht, krampfhaft das Ende herbeizusehnen»
Von Andreas Fischer
21.12.2021
Die aktuelle Corona-Welle ist noch nicht einmal vorbei, da droht schon die nächste. Hört das denn niemals auf? blue News hat bei einem Infektiologen der Uni Zürich nachgefragt.
Von Andreas Fischer
21.12.2021, 00:00
21.12.2021, 09:58
Von Andreas Fischer
«Kommen wir da jemals wieder raus?», fragte die bekannte Wissenschaftlerin und Wissenschaftserklärerin Mai Thi Nguyen-Kim vor Kurzem in ihrem Youtube-Kanal maiLab. Die Corona-Pandemie, so scheint es, läuft in einer Endlosschleife. Trotz Impfung, trotz Kontakteinschränkungen, trotz aller Massnahmen scheinen wir im Moment wieder da zu sein, wo wir im vorigen Winter auch waren.
Dass die aktuelle Infektionswelle nicht die letzte sein wird, darin sind sich Fachleute einig, erst recht vor dem Hintergrund der Omikron-Variante des Coronavirus. Gibt es wirklich keine Hoffnung auf ein absehbares Ende der Pandemie? blue News hat bei Jan Fehr, Infektiologe an der Universität Zürich, nachgefragt.
Zur Person
zVg
Infektiologe Jan Fehr leitet das Departement Public & Global Health am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich.
Die fünfte Welle rollt durch das Land, die sechste kündigt sich mit Omikron bereits an: Kommen wir jemals raus aus der Corona-Endlosschleife?
Wir sind dann draussen, wenn wir aufgehört haben zu zählen. Was ich damit sagen will: Das Mindset muss sich ändern. Wir sollten nicht versuchen, krampfhaft das Ende herbeizusehnen.
Wir sollten gelassener werden im Hinblick auf das Coronavirus?
Gelassenheit ist vielleicht das falsche Wort. Vielmehr sollten wir dem Pandemie-Geschehen mit einer gewissen Demut und Bescheidenheit begegnen. Wir müssen es letztendlich nehmen, wie es kommt. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, was keinesfalls heisst, die Hände in den Schoss zu legen. Aber wir müssen uns schonen, in Sprints zu denken, sonst brennen wir aus.
Also wird es weiterhin regelmässige Wellen geben?
Aus infektiologischer Sicht, wird es wahrscheinlich so werden, dass es noch einige Wellen geben wird, aber im Verlauf dann hoffentlich die Ausschläge der Wellen nicht mehr so ausgeprägt sind. Kleinere Wellen eben, wenig spürbar. Damit verknüpft ist die Hoffnung, dass mit Abflachung der Wellen auch das Gesundheitssystem weniger belastet wird.
Absehbar wird das Virus also nicht verschwinden: Wie lange können die Menschen die Pandemie noch ertragen?
Die Frage, die wir uns stellen müssen: Wie gehen wir damit um? Als Arzt ist es mir sehr vertraut, dass es Krankheiten gibt, die man nicht eliminieren kann. Trotzdem können die Menschen damit leben. Es gibt ein englisches Fachwort dafür: coping, was so viel wie zurechtkommen, bewältigen heisst. In Bezug auf das Coronavirus bedeutet das: Es mag auch in Zukunft noch da sein, aber die Gesellschaft kann damit umgehen, weil das Gesundheitssystem nicht mehr überlastet ist und es keine harten Einschränkungen mehr gibt. Das muss unser Ziel sein.
Die Frage ist nur: Wie ist unsere Einstellung als Gesellschaft dazu?
Genau. Wir müssen irgendwie als Gesellschaft durchkommen, dass es Lager gibt und eine vermeintliche oder auch echte Spaltung. Das ist ganz schwierig. Aber nachdem das Covid-Gesetz an der Urne angenommen wurde, hört man die Trychler kaum noch in den Strassen läuten. Die laute Minderheit ist ziemlich verstummt, seit dem sie nicht mehr behaupten kann, die schweigende Mehrheit zu vertreten. Letztendlich kommen wir nur gemeinsam durch diese Pandemie, die ja auch ein Prüfstein für weitere Herausforderungen ist. Sei es die nächste Pandemie, sei es der Klimawandel oder seien es Cyberattacken.
Ist die Schweiz aus epidemiologischer Sicht zu lasch mit den Massnahmen gewesen?
Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Schweiz in der Corona-Pandemie sehr hart am Wind von Minimummassnahmen gesegelt. Man hat immer möglichst viel offen gelassen. Aus infektiologischer Sicht hätte ich mir manchmal gewünscht, man hätte früher begonnen, restriktiver zu sein und wäre etwas zurückhaltender bei den Öffnungsschritten gewesen. Hätten wir in der aktuellen Situation früher reagiert, dann wären die Spitäler weniger «Delta-belastet» und wir hätten eine bessere Ausgangssituation für die momentan drohende Omikron-Welle.
Letztendlich ist es aber ein heikler Balance-Akt. Das Infektionsgeschehen ist nur ein Teilaspekt einer Pandemie, wenn auch ein wichtiger. Wirtschaftliche Überlegungen, wie auch Sozialaspekte müssen ebenso berücksichtigt werden. Man muss einen guten Mittelweg finden, was unglaublich schwierig ist. Das heisst aber auch, dass man die zur Verfügung stehenden Mittel, welche noch keine grössere Einschränkung bedeuten, möglichst früh und konsequent einsetzt.
Welche Mittel meinen Sie?
Vergleichen Sie einfach mal den Beginn der Pandemie mit der derzeitigen Situation. In der ersten Welle war das Konzept 2G noch keine Option, weil es schlicht und einfach noch keine Impfung gab. Jetzt sagen viele Menschen, wir seien in derselben Situation wie vor einem Jahr. Ja und Nein: Es kommt einem ähnlich vor, aber es ist einiges passiert inzwischen. Das ist Teil des Wegs, mit dem Virus in einer Gesellschaft zu leben.
Trotz Impfung sind die Fallzahlen ähnlich hoch, Spitäler und Intensivstationen sind stark belastet: Was hat sich denn konkret geändert im Vergleich zur Situation vor einem Jahr? Es scheint keine Verbesserung eingetreten zu sein.
Das ist eine ganz wichtige Frage. Auf den ersten Blick ist es nämlich genauso, wie Sie es schildern, Auf den zweiten Blick allerdings nicht. Der grosse Unterschied ist die Impfung. Hätten wir sie nicht, dann wären wir jetzt in einer Situation, wie wir sie im Frühjahr in Indien gesehen haben. Wir haben zwar ein besseres Gesundheitssystem, aber auch das wäre am Anschlag und darüber hinaus gewesen. Die Situation wäre nicht mehr zu prästieren gewesen.
Mit der Impfung haben wir einen wesentlichen Reduktionsfaktor eingebaut und das Schlimmste abgewendet: Obwohl die Delta-Variante deutlich aggressiver ist, schlagen sich die Fallzahlen nicht mehr in demselben Masse in Hospitalisationen und IPS-Belegungen nieder, wie vor Jahresfrist. Diese Reduktion ist ganz entscheidend, weil sie dazu führt, dass die Spitäler zahlenmässig weniger belastet sind. Allerdings sind die Menschen, die dort arbeiten, extrem belastet. Sie arbeiten seit 20 Monaten in der Pandemie. Das Gesundheitspersonal ist ausgelaugt und wahnsinnig unter Druck. Es gab einige Abgänge, und dem Personal wird auch nicht mehr zugeklatscht.
Wird es nach der Pandemie überhaupt noch jemanden geben, der diesen Job machen will?
Immerhin soll das Gesundheitspersonal nach der Annahme der Pflegeinitiative einen deutlich besseren Status erhalten, und es soll auch in den Pflegebereich nachhaltig investiert werden. Es braucht natürlich etwas Zeit, bis das trägt. Deshalb muss die Politik Sofortmassnahmen ergreifen. Sonst sind wir auf unseren schön ausgebauten Intensivstationen ziemlich allein mit dann kalten Betten.
Es gibt immer wieder Berichte von Impfdurchbrüchen, weil die Delta-Variante aggressiver ist als die vorherigen Virustypen. Manche Menschen fragen sich daher, ob die Impfung wirklich etwas gebracht hat.
Wir sind bei weitem nicht in der Situation, die wir uns wünschen. Aber wir kommen gerade irgendwie noch durch, ohne dass alles kollabiert. Dafür sind die Impfungen der entscheidende Faktor. Der überwiegende Teil, etwa 80 Prozent, der Patienten in den Spitälern und auf den Intensivstationen sind nicht geimpft. Bei Omikron gibt es noch offene Fragen, aber zumindest bei der Delta-Variante schützt die Impfung nach wie vor gut gegen schwere Verläufe. Das ist ganz entscheidend. Auch bei Omikron wird es so sein, dass ein Booster hilft. Natürlich gibt es Impfdurchbrüche.
Es ist manchmal wirklich schwierig, genau das den Menschen zu vermitteln. Dafür reichen zwei Sätze nicht aus, man muss es den Leuten erklären. Primär bedeutet ein Impfdurchbruch in den allermeisten Fällen ein positives Testresultat und leichte Symptome. Wäre man nicht geimpft, müsste man mit einem schweren Verlauf rechnen. Ganz konkret heruntergebrochen: Man wäre nicht krank zu Hause, sondern würde im Spital liegen. Die Booster-Impfung hilft zusätzlich, schwere Verläufe zu verhindern.
Der Bundesrat hat am Freitag überraschend angekündigt, dass Booster-Impfungen schon nach vier Monaten möglich sind statt wie bisher nach sechs. Macht das Ihrer Ansicht nach Sinn?
Der Vorstoss hat ein bisschen Unruhe ausgelöst, weil viele Dinge erst noch operationalisiert werden müssen. Organisatorisch gibt es noch einiges zu tun. Aus wissenschaftlicher Sicht macht das verkürzte Booster-Intervall natürlich Sinn. Allerdings muss es auch stemmbar sein – nicht mit kantonalen Einzellösungen, sondern als nationale Lösung.
Was kann jeder Einzelne tun, um die aktuelle Welle zu brechen?
All das, was wir in den letzten 20 Monaten trainiert haben. Abstand halten, wo man Abstand halten kann. Maske tragen, sich an Hygienevorschriften halten. Und leider kann man nicht in einem ganz grossen Rahmen Weihnachten feiern. Wichtig ist, dass jeder mitdenkt und im Zweifelsfall Verzicht übt in dieser akuten Phase. Wir sind in einer heiklen Situation gerade, und angesichts Omikron könnte die sechste Welle bereits vor der Tür stehen. Wir müssen jetzt etwas auf die Bremse treten: Die Alternative wäre ein Teil-Lockdown. Und den will niemand.
Welche Rolle wird die Omikron-Variante für den Pandemie-Verlauf im nächsten Jahr spielen?
Es gibt verschiedene Szenarien, aber meine Glaskugel ist beschlagen. Was wir wissen: Die Verdoppelungszeit ist deutlich schneller als bei Delta, innerhalb von drei bis vier Tagen zeigt sich eine Verdoppelung der Fallzahlen. Das ist unangenehm. Das zweite, was wir wissen: Omikron ist eine sogenannte Escape-Variante. Das heisst: Sie trägt eine Art Tarnkappe und kann sich dem Immunsystem teilweise entziehen. Auch das ist unangenehm.
Wie schwer sind die Krankheitsverläufe bei der Omikron-Variante?
Genau das wissen wir noch nicht. Wenn sie grundsätzlich mild sind, gibt es Überlegungen, dass man sagt: «Das ist das Beste, was uns passieren kann. Dann sind einfach alle schnell durchseucht und genesen.» Dann gibt es eine wirkliche, fast lückenlose Herdenimmunität. Allerdings: Sind die Verläufe nur ein bisschen schwerer, dann kommt das aktuell ohnehin schon belastete Gesundheitssystem weiter an den Anschlag. Wir haben schliesslich wegen der Delta-Variante kaum mehr Reserven in den Spitälern. Das wird uns ganz sicher beschäftigen.
Zum Schluss doch noch einmal Hand aufs Herz: Wann werden wir der Corona-Endlosschleife entkommen?
Ich kann beim besten Willen keine Zeitangabe machen. Das würde gerade auch niemandem helfen. Wie eingangs erwähnt: Wir brauchen einen anderen Mindset, weg von Zahlen und festen Daten, auf die wir zurennen und danach enttäuscht sind, wenn es nicht aufgeht. Das macht uns alle nur mürbe.
Gesundheitsminister Berset spricht von «instabiler Lage»
Gesundheitsminister Alain Berset hat die verschärften Corona-Massnahmen mit der aktuell «instabilen Lage» begründet. Die Fallzahlen bewegten sich auf einem sehr hohen Niveau. Zudem blieben viele Unsicherheiten wegen der Omikron-Variante.