Drei Wochen QuarantäneFetzen können auch in aller Stille fliegen
Von Andreas Fischer
30.12.2021
Kinder infiziert? Impfdurchbruch? Eigene Quarantäne? Das hat unser Autor alles hinter sich – und zwar gleichzeitig. Die Bilanz einer persönlichen Corona-Krise.
Von Andreas Fischer
30.12.2021, 11:22
30.12.2021, 11:23
Von Andreas Fischer
Das Beste von 2021
Zum Jahresende bringt blue News die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 12. Dezember 2021.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man. Bei uns war das an einem Sonntag im November. Das Coronavirus hat den Weg in unsere Familie gefunden – trotz doppelter Impfung der Erwachsenen, trotz Vorsichtsmassnahmen, trotz täglicher Tests in der Schule. Eine persönliche Rekapitulation der bislang dreieinhalb längsten Wochen in der Corona-Pandemie.
Sonntag, 14. November: Der Schock
Meine Tochter Hanna* (8) klagt über Kopfschmerzen und Müdigkeit. Alarmiert von den Corona-Entwicklungen der letzten Woche, machen wir sofort einen Selbsttest. Die Diagnose ist ein Schock. Vor allem für Hanna: Sie lässt sich aber trösten. Ich ahne, dass es anstrengend wird, aber ich bin auch irgendwie erleichtert. Wochenlang schwebte das Damoklesschwert über mir, jetzt ist es niedergesaust. Ich schalte in den Funktionier-Modus um.
Es wird konkret, damit kann ich besser umgehen als mit Hoffen und Bangen. Ich informiere sofort per E-Mail, SMS, Telefon Freundinnen, Sportverein, Schule. Die Klassenlehrerin ruft gleich zurück, sie mache sich «langsam Sorgen. Ich bin ja nicht geimpft. Hätte ich es doch lieber machen sollen?» Das muss ich erst mal sacken lassen.
Dabei sollte ich nicht überrascht sein. Ich lebe in Sachsen, dem deutschen Bundesland mit der niedrigsten Impfquote und den lautesten Massnahmengegnern. Darf ich sauer sein auf die Ungeimpften?
Montag, 15. November: In der Kälte
Den fälligen PCR-Test für Hanna und ihre Schwester Hedwig* (5) machen wir beim Kinderarzt. Wir sollen gleich früh vorbeikommen, zweimal läuten. Das mache ich. Dann stehe ich vor der Tür, während meine Lebensgefährtin Martina mit den Kindern im Freien wartet. Eine Stunde lang, in der Kälte! Das Praxispersonal ist komplett überlastet, weiss nicht mehr, wo oben und wo unten ist.
Wenigstens gibt es am Abend eine erste Erleichterung. Hanna ist nach einem Tag schon wieder zu gesund, um brav zu sein. Das werden zwei tolle Wochen.
Mittwoch, 17. November: Augen zu und durch
Für mich geht das Leben halbwegs weiter. Zumindest kann ich noch raus, ins Büro, zum Einkaufen. Selbsttests gibt es in der Stadt nirgends. Online sind sie völlig überteuert, die Lieferzeiten sind lang.
Als Geimpfter muss ich nicht in Quarantäne, mache aber täglich einen Selbsttest (solange ich noch welche habe) und schränke mich ein. Bloss niemandem zu nahe kommen. Mit Hanna machen wir abwechselnd Homeschooling, regulär arbeiten ist nicht drin. Augen zu und durch.
Donnerstag, 18. November: Noch ein Schock
In den Quarantäne-Hinweisen heisst es, man solle die infizierten Personen separieren. Meine Erfahrung: Kinder im Alter von fünf und acht halten sich nicht daran. Die Konsequenz: Am Nachmittag klagt meine Tochter Hedwig (5) über Kopfschmerzen und Müdigkeit. Alarmiert von den Corona-Entwicklungen … (siehe Montag).
Freitag, 19. November: Die Impfschutz-Frage
Der fällige PCR-Test beim Kinderarzt: Diesmal müssen wir nur eine halbe Stunde warten. Wir sind erleichtert, dass auch bei Hedwig die Symptome mild sind. Eine andere Frage wird drängender: Hält unser Impfschutz?
Meine Mutter wohnt in Bremerhaven und will uns Selbsttests schicken: Die sind dort Ladenhüter, niemand braucht sie. Bremerhaven gehört zu dem Bundesland, das bei der Impfquote am anderen Ende der Rangliste steht. Im Norden Deutschlands ist man sehr impffreudig, dort gibt es nur noch wenige Erwachsene, die nicht geimpft sind.
Sonntag, 21. November: Das letzte Mal
Der Garten muss winterfest gemacht werden. Dass die zwei Stunden am Vormittag mein vorerst letztes Mal im Freien sein werden, weiss ich noch nicht.
Hanna trifft sich am Nachmittag in einer mini Skype-Konferenz mit zwei Freundinnen. Immer nur die kleine Schwester und die Eltern – das hält keine Zweitklässlerin lange aus. Die Mädchen spielen Buchstabenraten – das sogenannte Galgenspiel. Ich finde, der Name passt zu unserer Situation.
Montag, 22. November: Ein geschenkter Tag
Eine Woche nach dem positiven PCR-Test von Hanna ruft das Gesundheitsamt wegen ihrer Quarantäne an. Sie sei völlig überarbeitet, erklärt die Mitarbeiterin. Sie ist dabei freundlich und verständnisvoll, erläutert die notwendigen Massnahmen und legt den Beginn der Quarantäne auf den Tag der ersten Symptome fest. Das ist ein geschenkter Tag für Hanna.
Zum Schluss fragt die Frau vom Gesundheitsamt auch nach Symptomen bei uns Erwachsenen: «Nein, nein, bei uns ist alles gut. Wir sind doppelt geimpft, der letzte Selbsttest war negativ.» Am Abend klagen meine Freundin und ich über Kopfschmerzen und Müdigkeit … F*ck. Wir jetzt auch? Trotz Impfung?
Dienstag, 23. November: Es wird schlimmer
Die Selbsttests aus Bremerhaven kommen an – und funktionieren. Das sieht man an den beiden Strichen … Ich habe zwar keinen Vergleich: Aber die Symptome unserer Infektion sind wohl mild. Unangenehm sind sie trotzdem: Kopfschmerzen, Mattigkeit, Rotznase ... Schlimmer ist die Angst, dass da noch etwas nachkommt.
Fest steht: An Arbeit ist nicht zu denken. Ich sage alle Dienste ab, meine Freundin schliesst ihren Onlineshop. Als Selbstständige bedeutet Corona-Quarantäne: Man verdient kein Geld. Gar keins.
Aber: Freunde und Verwandte wollen helfen – und tun es auch. Meine Schwester erledigt die grossen Einkäufe, meine beste Freundin bringt frische Milch und Eier. Nachbarn holen die Post aus dem Briefkasten. Mein neuer Standardsatz für die Paketboten: «Stellen Sie die Sendung bitte im ersten Obergeschoss links vor die Tür. Wir sind in Quarantäne.»
Mittwoch, 24. November: Lange Verlängerung
Ich habe meinen Hausarzt als sportlichen Mann in Erinnerung, doch bei unserem PCR-Test sieht er abgekämpft, müde, irgendwie erschlafft aus. Er hat sich Anfang Jahr mit dem Coronavirus infiziert, kurz vor seiner Impfung. Seitdem konnte er noch nicht wieder joggen gehen. Die Folgen seiner Covid-19-Erkrankung.
Unser Ergebnis sollen wir am Donnerstag bekommen. Dass es positiv ist, steht ausser Frage: Wenn man zehn Tage mit zwei infektiösen Kindern in einer Wohnung in Quarantäne ist, dann versagt bei der besten Impfung der Schutz vor einer Ansteckung. Ich bin trotzdem froh, geimpft zu sein: Die Kopfschmerzen lassen schon nach, und ich fühle mich auch nicht mehr extrem schlapp.
Ich werde mir bewusst, dass wir mit den Kindern schon zehn Tage in Quasi-Quarantäne sind und nun mindestens 14 Tage echte Quarantäne dazukommen. «Augen zu und durch» funktioniert nicht mehr.
Donnerstag, 25. November: Ein Ende in Sicht
Mittlerweile sind die amtlichen Quarantäne-Bescheide für Hanna da. Nach fast zwei Wochen. Es dauert alles ein bisschen länger in einer Stadt mit einer 7-Tage-Inzidenz jenseits der 700. Der Schulleiter sagt, dass Hanna am Montag wieder in die Schule kommen darf – wenn sie einen negativen Test vorweist. Wer geht mit ihr zum Testzentrum? Wir dürfen nicht raus. Meine Schwester übernimmt – mal wieder.
Freitag, 26. November: Die Geduld flieht
Die Stimmung zu Hause? Na ja … die Kinder machen ihr Ding, sie lieben und sie hassen sich. Letzteres wird zunehmend anstrengend. Wir müssen uns bewegen – Springseil im Korridor ist eine gute Idee. Das Highlight ist – mal wieder – der Ausflug auf den Balkon.
Wir Erwachsenen verlieren die Geduld miteinander. Es fehlen die Momente, die man nur für sich hat. Man kann nicht weg. Und das Schlimmste: Man sieht immer, wie der andere die Kinder erzieht – und alles falsch macht. Wir rollen genervt mit den Augen. Ständig.
Immer mehr Müll sammelt sich an. Ungetrennt – für mich als Deutschen ist das ein Weltuntergang.
Sonntag, 28. November: Ein Lichtblick
Hanna hat ihren letzten Tag in Quarantäne. Wir machen einen Selbsttest: negativ. Meine Schwester geht mit ihr am nächsten Tag zu einem offiziellen Testzentrum. Sie muss allerdings arbeiten und kann daher erst am Nachmittag: also noch ein Tag Homeschooling. Mittlerweile sind wir richtig gut darin.
Meine beste Freundin Maria* bietet an, dass meine Kinder am nächsten Sonntag zum Kindergeburtstag ihrer Tochter kommen dürfen. Super Idee – wir Erwachsenen können zwar immer noch nicht raus, hätten aber das erste Mal seit dann drei Wochen zwei, drei Stunden ganz ohne Kinder und Verpflichtungen.
Dienstag, 30. November: Die Ruhe im Sturm
Hannas erster Tag zurück in der Schule bedeutet ein bisschen mehr Ruhe. Das sollte meiner Freundin und mir guttun. Die Stimmung wird aber nicht wirklich besser. Irgendwann wird eine Nachbarin sagen: «Respekt, wie ihr das alles ohne Streit geschafft habt. Man hat bei euch gar nichts gehört.» Fetzen können auch in aller Stille fliegen.
Donnerstag, 2. Dezember: Bier vor der Tür
Morgen kann Hedwig wieder in den Kindergarten – nach fast drei Wochen. Aber wie kommt sie da hin? Wir sind immer noch in Quarantäne und überlegen, wen wir fragen können.
Die Lösung kommt per Telefon: Miriam*, die Mutter einer Freundin aus dem Kindergarten, bietet an, Hedwig morgens abzuholen und nachmittags zu bringen. Können wir das machen? Wir können. Und wir sind einmal mehr überwältigt von der Hilfsbereitschaft unserer Freunde (am Abend stellt Johann* noch ein paar Flaschen Bier vor die Tür, und Henner* bringt neues Kaminholz).
Freitag, 3. Dezember: Restart mit Impfchef
Hedwig wird wie versprochen morgens abgeholt und nachmittags gebracht. Ich kann das erste Mal wieder Dienst bei blue News machen: Auf dem Programm steht unter anderem ein Gespräch mit Christoph Berger von der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif). Es geht um das Boostern und die Fragen, ob man zum Ende der Sechsmonatsfrist besonders vorsichtig sein sollte – wegen eventueller Impfdurchbrüche. Ich könnte dem Impfchef ein Lied davon singen.
Meine zweite Impfung war heute sechs Monate her – ich hätte mich boostern lassen können. Immerhin sagt Christoph Berger auch: «Ab dem Impfdurchbruch ist man aufgrund der Infektion wie nach einer Impfung geschützt – sogar noch etwas besser.»
Samstag, 4. Dezember: Die Eskalation
Die Zeit zermürbt uns, nach drei Wochen kracht es doch. Meine Freundin Maria lädt unsere Kinder quasi wieder vom Kindergeburtstag morgen aus. Sie hat Bedenken, weil die Grosseltern auch da sind. Die sind zwar geboostert, aber das Risiko ist ihnen zu hoch. Aus virologischer Sicht ist das übervorsichtig, die Kinder werden in den nächsten zwei, drei Monaten mit dem Virus nichts zu tun haben. Aber ich kann die Bedenken nachvollziehen.
Meiner Partnerin fällt das schwerer: Der Frust ist grenzenlos. Eigentlich ist sie vor allem enttäuscht über die verpasste Alleinzeit. Wir können beide nicht damit umgehen. Drei Wochen hocken wir nun ununterbrochen aufeinander. Die Toleranzgrenzen haben sich aufgelöst. Unser schlimmster Feind ist die Psyche.
Dienstag, 7. Dezember: Alles auf Anfang
Gegen Mittag läutet das Ordnungsamt. Zwei Mitarbeiter kontrollieren am vorletzten Tag unserer Quarantäne tatsächlich, ob wir zu Hause sind. Sind wir.
Am Nachmittag bringt Miriam unsere Tochter Hedwig zurück aus dem Kindergarten und hat einen Brief dabei: Die Kitagruppe ist ab morgen geschlossen. Personalmangel wegen Corona. Meine Freundin bekommt ausVerzweiflung Heulkrämpfe, ich spüre, wie mir die Kraft entweicht. F*ck Corona.
Es ist nicht absehbar, wann wir wieder ein normales Leben haben werden. Wer behauptet, Homeoffice und Kinderbetreuung schafft man schon mal ein paar Tage gleichzeitig, der sollte mal ein paar Tage versuchen, Homeoffice und Kinderbetreuung gleichzeitig zu schaffen. Und dann die Arbeit in der Nacht erledigen.
Mit Miriam finden wir einen Deal: Sie bespielt am Mittwoch Hedwig und ihre Freundin, am Donnerstag übernehme ich die beiden Kinder. Ich darf dann ja wieder raus. Wir teilen uns die Last, das fühlt sich gut an.
Mittwoch, 8. Dezember: Bye-bye, Müllsäcke
Der 24. und letzte Tag in unserer rollenden Familienquarantäne. Ich warte, bis es Mitternacht ist. Dann bringe ich in den Müll raus. Das hat mir noch nie so viel Freude bereitet.
*Die Namen der Kinder und Freunde wurden geändert.