Soziologe zur angespannten Lage Bleibt es bei Aufrufen zur Gewalt oder ist die Gefahr der Eskalation real?

Von Lia Pescatore

10.9.2021

210910_Baier_1

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10.09.2021

Die Ausweitung der Zertifikatspflicht mobilisiert die Massnahmen-Gegner, auf der Strasse und auch im Internet wird der Ton rauer. Droht die Situation zu eskalieren? Soziologe Dirk Baier ordnet ein.

Von Lia Pescatore

Die Demonstrationen der Massnahmen-Gegner am Samstag sind schon fast zur Tradition geworden. Seit der Ankündigung der Erweiterung der Zertifikatspflicht häufen sich die Demonstrationen jedoch. Nach der Pressekonferenz des Bundesrats wurde jeden Abend in Bern demonstriert, Tausende versammelten sich, um gegen die Einschränkungen zu demonstrieren.

Die Verschärfung der Massnahmen habe der Gegnerschaft einen Anlass geboten, nochmals zu mobilisieren, sagt der Soziologe Dirk Baier – zu demonstrieren, das sei ja auch ihr gutes Recht.

Demo gegen «Impfzwang durch Hintertür» erreicht Bundesplatz

Demo gegen «Impfzwang durch Hintertür» erreicht Bundesplatz

Die rund tausend Menschen, die am Mittwoch in Bern gegen die Ausweitung des Corona-Zertifikats protestierten, haben am Abend doch noch den Bundesplatz erreicht. Kurz nach 21 Uhr versammelten sich sich vor dem Bundeshaus. Die Polizei liess sie zunächst gewähren. Ein montierter Zaun trennte die Menge von der Strasse vor dem Bundeshaus. Ein «Konzert» der sogenannten Freiheitstrychler fand bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Demo grossen Applaus. Die Teilnehmer der Kundgebung sangen danach die Nationalhymne. Die Demonstration hatte sich am Abend beim Bahnhofplatz besammelt und war danach durch die Innenstadt gezogen.

10.09.2021

Doch nicht nur auf der Strasse, auch im Internet lassen die Kritiker ihrem Frust freien Lauf. So kursiert auf Twitter ein Video eines Wirts, der sich der neuen Zertifikatspflicht in der Gastronomie entgegenstellt. Doch nicht nur das: Im Video richtet er auch eine direkte Drohung an Innenminister Alain Berset: «Komm ja nicht in die Innerschweiz. Du weisst nie, wenn im Tram jemand eine Rakete dabeihat. Oder jemand zwei Kilometer entfernt mit dem Scharfschützen-Gewehr sitzt.»



Es fehlt am einheitlichen Feindbild

Wie gross ist die Gefahr, dass solche Äusserungen in die Tat umgesetzt werden? Baier, der auch das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW leitet, vermutet zwar, dass solche verbalen Ausfälle in den nächsten Tagen zunehmen könnten.

Mit gewalttätigen Ausschreitungen rechnet er aber nicht. Damit Menschen zur Tat schreiten, brauche es ein einheitliches Feindbild. Momentan richte sich die Aggression jedoch gegen verschiedene Akteure: gegen Politiker, Journalisten, aber auch Wissenschaftler, «die Gründe dafür liefern, warum jetzt solche Entscheidungen getroffen werden», so Baier. Aber: «Es gibt nicht den einen Bösewicht, der jetzt angegriffen wird.»

Zwar könnten sich die Feindbilder auch noch verdichten. Bundespolitiker wie Alain Berset würden da wohl im Fokus stehen. Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund, warum Baier keine Gewaltausbrüche erwartet: die alterstechnische Zusammensetzung der Demonstrierenden.

Junge sind gewaltbereiter als Alte

«Die Bewegung wird von der mittleren Generation getragen», die Anhänger seien durchschnittlich 45-jährig. Laut Baier eine Altersgruppe, «die in der Regel mit beiden Beinen im Leben steht» und darum nicht zu physischer Gewalt neige. Dafür brauche es Jüngere, vor allem Männer, «das hat die Vergangenheit gezeigt». Baier setzt sich in seiner Forschung spezifisch mit Jugendlichen auseinander.

Das Spannende sei, dass sich die Schweizer Jugendlichen in der Pandemie sehr zurückgenommen hätten, sagt Baier. Dies, obwohl es die Altersgruppe gewesen sei, die am meisten unter den Einschränkungen gelitten habe. «Ihr Bedürfnis, sich zu treffen und mobil zu sein, wurde für längere Zeit beschnitten»; dies sei nun auch mit der Zertifikatspflicht wieder der Fall. Darum könne es vermehrt zu Protesten oder verbalen Entgleisungen kommen. Aber mit starker Gewalt rechnet Baier auch hier nicht. «Die Schweizer Jugend ist erfahrungsgemäss eher zivil», sagt er.

Debatte und Nähe: Schweizerische Eigenheiten

Dies hänge auch mit der Schweizer Mentalität zusammen: Einerseits werde die Tradition der Diskussion gepflegt, «Probleme werden in der Schweiz ausgesprochen und ausgehandelt», so Baier. Zudem sei die Schweiz im Vergleich zu ihren Nachbarn klein, das bringe auch eine Nähe mit sich. «Nähe bedeutet auch Kontrolle», erklärt Baier. «Wir können nicht einfach so ausrasten, ohne dass es jemand mitkriegt.»

Auch die Demonstrationen seien darum ganz im schweizerischen Sinne. «Die Menschen sind sichtbar und ansprechbar», Gegendemonstranten könnten Stellung nehmen und das Ganze durch die Polizei kontrolliert werden. Anders sei dies in der virtuellen Welt. «Wenn ich einen Telegram-Kanal gefunden habe, der meiner Meinung entspricht, dann stosse ich nie mehr auf alternative Deutungen», so Baier. 

Darum sei das Internet erfahrungsgemäss auch bedeutender bei Radikalisierungen, «der Grundstein fürs Handeln wird eher hier gelegt». Auch online solle man darum widersprechen, wenn man auf Drohungen wie diese des Wirten stosse. «Ansonsten ist schnell eine Schwelle erreicht», warnt Baier.