Rekord bei SchwangerschaftsabbrüchenSoll die «Pille danach» leichter zugänglich sein?
jke
9.7.2024
Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz ist 2023 auf ein Rekordhoch gestiegen. Gründe könnten die sinkende Nutzung der Antibabypille oder strenge Regularien für die «Pille danach» sein.
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09.07.2024, 19:12
Jenny Keller
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz ist 2023 auf 11'782 gestiegen, ein Plus von 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Seit 2002 erlaubt die Schweiz Abtreibungen bis zur 12. Schwangerschaftswoche, was damals eine jahrzehntelange Debatte beendete.
Immer weniger Frauen nutzen die Antibabypille, was als ein möglicher Grund für den Anstieg der Abtreibungen gilt.
Die strengen Regularien und hohen Kosten für die «Pille danach» in der Schweiz erschweren den Zugang zu diesem Notfallkontrazeptivum.
Trotz der wachsenden Bereitschaft junger Männer, Verantwortung für Verhütung zu übernehmen, liegt die Hauptverantwortung nach wie vor bei den Frauen.
Im internationalen Vergleich hat die Schweiz eine der niedrigsten Abtreibungsraten. Doch seit 2017 steigt die Zahl an. 2023 wurden so viele Schwangerschaftsabbrüche registriert wie noch nie zuvor.
Das Bundesamt für Statistik (BfS) veröffentlichte am Donnerstag die neuesten Zahlen: Im vergangenen Jahr kam es zu insgesamt 11'782 Schwangerschaftsabbrüchen bei Frauen mit Wohnsitz in der Schweiz. Das sind 6,2 Prozent mehr als im Jahr 2022.
Für die SVP-Nationalrätinnen Céline Amaudruz und Martina Bircher handelt es sich um eine «besorgniserregende Entwicklung», wie sie gegenüber «20 Minuten» erklären. Amaudruz betont, dass die beobachtete Zunahme die Gefahr berge, dass Abtreibung «zu einer Verhütungsmethode verkomme».
Abtreibungen in der Schweiz seit 22 Jahren erlaubt
In der Schweiz ist der Schwangerschaftsabbruch erst seit 22 Jahren legal. Am 2. Juni 2002 stimmten über 72 Prozent der Bevölkerung dafür, Abtreibungen bis zur 12. Schwangerschaftswoche zu erlauben.
Das als «Fristenregelung» bekannte Gesetz («Artikel 119») trat am 1. Oktober 2002 in Kraft und sieht vor, dass ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen straffrei ist, «wenn die Frau schriftlich darum ersucht und geltend macht, dass sie sich in einer Notlage befindet».
Zusätzlich wird ein Abbruch erlaubt, wenn medizinisch nachgewiesen wird, dass «eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit der schwangeren Frau» vorliegt.
Frauen haben weniger Lust auf Antibabypille
Ein möglicher Grund für den aktuellen Anstieg der Abtreibungen könnte die sinkende Nutzung der Antibabypille sein, erklärt Sibil Tschudin, emeritierte Professorin der Abteilung für Gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik am Universitätsspital Basel, im Gespräch mit «Watson».
Laut einer Gesundheitsbefragung des BfS setzen immer weniger Frauen auf die Pille als Verhütungsmittel. Während 2017 noch 32 Prozent der Paare im Alter von 25 bis 34 Jahren auf die Pille vertrauten, waren es 2022 nur noch 19,5 Prozent.
Diese Entwicklung könnte mit einem gestiegenen Bewusstsein für die Nebenwirkungen der Pille zusammenhängen, aber auch mit einem generellen Wandel in den Präferenzen für Verhütungsmethoden. Sicherere Alternativen wie die Spirale verzeichnen zwar einen leichten Anstieg (von 6 auf 9 Prozent), können jedoch den Rückgang der Pille nicht ausgleichen.
Stattdessen greifen viele Paare auf unsicherere Methoden wie das Kondom oder natürliche Verhütungsmethoden mithilfe von Zyklus-Apps und Verhütungscomputern zurück.
«Pille danach» in der Schweiz stark reguliert
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Zugang zu Notfallkontrazeptiva wie der «Pille danach», die seit 2002 zugelassen ist. Im internationalen Vergleich ist der Zugang in der Schweiz aber stark reguliert. In keinem anderen europäischen Land ist die «Pille danach» so schwer erhältlich.
Die hohen Kosten von rund 45 bis 70 Franken und das Fehlen einer Kostenübernahme durch die Grundversicherung stellen zusätzliche Hürden dar.
GLP-Fraktionschefin Corina Gredig kritisiert diese Regelung gegenüber «20 Minuten» und fordert eine Herabstufung der «Pille danach» in eine tiefere Abgabekategorie: «Erwachsene sind selbst verantwortlich für ihre Sexualität.»
Männer erhalten Viagra unterdessen rezeptfrei
Gredig unterstreicht die Notwendigkeit, dass die «Pille danach» ohne bürokratische oder moralisierende Hürden erhältlich sein sollte. Die Politikerin bedauert, dass diese Einstufung bei der Revision des Heilmittelgesetzes versäumt wurde.
Seit der Revision im Jahr 2019 ist es verboten, das Medikament in der Schweiz zu bewerben. Männer erhalten Viagra in der Apotheke einfacher als Frauen die «Pille danach» – nämlich rezeptfrei (seit 2020) und ohne Beratungsgespräch.
Und dies, obwohl bei der Einnahme der «Pille danach» ein Zeitdruck besteht: Die Wirkstoffe verzögern den Eisprung um mindestens fünf Tage – so lange, wie männliche Spermien im weiblichen Körper überleben können. Die Eizellen können so nicht mehr befruchtet werden. Allerdings muss das vor dem Eisprung passieren – eine Einnahme danach ist unwirksam, ein bereits gesprungenes Ei kann noch befruchtet werden.
Die «Pille danach» muss daher so früh wie möglich eingenommen werden, da sie umso wirksamer ist, je schneller sie genommen wird. Die «ellaOne» kann bis höchstens fünf Tage (120 Stunden) nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen werden, die «Levonorgestrel Sandoz» bis drei Tage (72 Stunden) danach. Mit der rechtzeitigen Einnahme kann das Risiko, schwanger zu werden, auf bis zu 0,9 Prozent reduziert werden.
Problematisch sei wegen des entscheidenden Zeitfaktors auch die Verpflichtung zum 15-minütigen Beratungsgespräch in der Apotheke und dem Ausfüllen eines Fragebogens, sagt Gredig. Studien zeigen, dass Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen zwar möglich, aber selten sind. Die Hormongabe kann aber kurzfristig den Menstruationszyklus durcheinanderbringen.
Fragebogen online ausfüllen
Auch SVP-Nationalrätin Martina Bircher hält die aktuellen Hürden für die Abgabe von Notfallkontrazeptiva in der Schweiz für zu hoch. Sie fordert bei «20 Minuten» eine Überprüfung der Modalitäten.
Ihre Parteikollegin Céline Amaudruz stimmt zu: «Alles, was dazu beitragen kann, eine ungewollte Schwangerschaft und erst recht eine Abtreibung zu verhindern, sollte leicht zugänglich sein.»
SP-Nationalrätin Tamara Funiciello findet die Informationspflicht bei der Abgabe der «Pille danach» grundsätzlich sinnvoll, schlägt jedoch Verbesserungen bei der Durchführung vor: «Man könnte den Fragebogen beispielsweise auch online oder in einer App ausfüllen.»
In Basel-Stadt gibt es bereits ein entsprechendes Angebot, bei dem das Medikament mittels eines QR-Codes in der Apotheke bezogen werden kann. Gredig unterstützt diese Idee. Eine Online-Version könnte zudem helfen, Sprachbarrieren leichter zu überwinden.
So oder so: Die Verantwortung für Verhütung und Schwangerschaftsabbrüche liegt nach wie vor überwiegend bei den Frauen. Männer können die Pille nicht für ihre Partnerinnen in der Apotheke holen.
Wie sich die Nutzung der Pille weiterentwickelt, hängt nicht zuletzt davon ab, welche neuen Verhütungsmittel in Zukunft auf den Markt kommen. Ob die Pille für den Mann dereinst doch noch kommt, ist laut NZZ derzeit offen. Entscheidend wird sein, ob Frauen sich mit der Idee anfreunden können, die Verhütung in die Hände der Männer zu legen, und ob diese bereit sind, die Verantwortung zu übernehmen.
Junge Männer übernehmen Verantwortung
Eine andere, bereits stattgefundene Entwicklung zeigt jedoch Fortschritte in der Verhütungsdiskussion. Sibil Tschudin und Gabriele Merki, Oberärztin und Leiterin der Sprechstunde zu Schwangerschaftsverhütung am Universitätsspital Zürich, erzählen in der NZZ, dass «Verhütungsfragen in Beziehungen heute unkomplizierter besprochen werden».
Besonders junge Männer seien zunehmend bereit, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Während der Gebrauch des Kondoms zunehme, bleibe die Vasektomie, also die Unterbindung, allerdings eine seltene Form der Verhütung.
Parallel zur Debatte um Verhütung erlebt die Schweiz eine deutliche Babybaisse. Im Jahr 2023 wurden 80'024 Kinder geboren, knapp 10'000 weniger als 2021. Mit einer Geburtenrate von 1,33 pro Frau liegt die Schweiz auf einem historischen Tiefststand.