«Trauerspiel» und «Blamage» So fallen die Reaktionen auf das aufgehobene Vincenz-Urteil aus

SDA

20.2.2024

Das Bezirksgericht Zürich hatte Pierin Vincenz 2022 noch schuldig gesprochen. Das Obergericht hebt das Urteil nun auf.
Das Bezirksgericht Zürich hatte Pierin Vincenz 2022 noch schuldig gesprochen. Das Obergericht hebt das Urteil nun auf.
Archivbild: sda

Der Prozess gegen Ex-Raiffeisenboss Pierin Vincenz muss neu aufgerollt werden: Nach diesem Paukenschlag des Zürcher Obergerichts äussern Medien und ein Wirtschaftsrecht-Experte Kritik an der Zürcher Justiz.  

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  • Das Zürcher Obergericht hat am Dienstag das erstinstanzliche Urteil gegen den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz aufgehoben.
  • Die Anklageschrift sei zu ausschweifend gewesen, was die Verteidigung erschwert habe. 
  • Der Berner Wirtschaftsrechtler Peter V. Kunz übt harsche Kritik an der Zürcher Justiz.

Wirtschaftsrechtler Peter V. Kunz übt nach der Aufhebung des Urteils gegen Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz harsche Kritik an der Zürcher Justiz. Schon das Bezirksgericht hätte die Anklageschrift erstinstanzlich zurückweisen müssen. 

Die Anklageschrift gegen Vincenz sei bereits zu Anfang umstritten gewesen, erklärt Peter V. Kunz der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Für die Justiz sei das ein «Trauerspiel» – und für die Beschuldigten erst recht.

Diese müssten nun weiterhin mit der Ungewissheit leben, sagte der Ordinarius für Wirtschaftsrecht und für Rechtsvergleichung an der Universität Bern. Das Leben der Beschuldigten sei praktisch auf «Hold» gestellt. Wegen der aufrecht erhaltenen Vermögenssperre stellten sich ihnen nicht zuletzt existenzielle Fragen.

Nicht einsichtig sei ihm, warum nicht bereits das Bezirksgericht die Anklageschrift abgewiesen habe. Dass sie zu «plauderhaft» gewesen sei, habe er, so Kunz, schon vor dem erstinstanzlichen Prozess kritisiert. Das Zürcher Obergericht habe das mit der Qualifikation als «zu ausschweifend» bestätigt.

Was bedeutet das Urteil für das weitere Verfahren?

Jetzt sei das Verfahren wieder auf Feld eins und ziehe sich erneut über Jahre hin. Wie Kunz vorrechnete, ist die nachgebesserte Anklageschrift vielleicht bis Ende 2024 zu erwarten, der Prozess vor Bezirksgericht 2025 und ein ein Urteil des Bundesgerichts 2028.

Sollte Pierin Vincenz dann ins Gefängnis müssen, wäre er Mitte siebzig. Vorwürfe gegen ihn würden zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre zurückliegen. Das sei eines Rechtsstaats nicht würdig.

Von den Kosten für den Steuerzahler ganz zu schweigen, fuhr Kunz fort. Das Obergericht habe Vincenz und Mitbeschuldigten rund 400'000 Franken Anwaltsentschädigung zugesprochen. Mit der Rückweisung beginne zudem das Ganze von vorn – mit entsprechenden Kostenfolgen.

Kritik an der Zürcher Justiz

Der Fall zeige, wie gefährlich es sei, wenn Schweizer Gerichte auf lange Anklageschriften und kurze Einvernahmen setzten. Es wäre besser, die Details in der Verhandlung zu klären.

Weiter gab Kunz zu bedenken, dass Unschuldsvermutung und Beschleunigungsgebot auch für bekannte Menschen gelten. Medienberichte und Neid würden daran nichts ändern.

Der Fall Vincenz müsste juristisch unerfahrenen oder ärmeren Menschen eigentlich Angst einjagen, sagte Kunz. Praktisch wehrlos könnten sie sich eines Tages einer Anklageschrift mit Verfahrensfehlern gegenüber sehen und ungerechtfertigt ins Gefängnis wandern.

Tamedia-Online: «Heftige Schlappe»

Die Tamedia-Zeitungen kommentieren auf ihren Webseiten den Entscheid des Obergerichts, das Urteil gegen den Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und weiter Beschuldigte, wie folgt:

«Für die Zürcher Staatsanwaltschaft um Marc Jean-Richard-dit-Bressel ist es eine heftige Schlappe. (...) Die Gründe liegen in Verfahrensmängeln – und diese muss die Staatsanwaltschaft auf ihre Kappe nehmen. Sie hat sich in ihrem Eifer, alles möglichst perfekt zu machen, selbst eine Falle gestellt. (...) Für Vincenz und die weiteren Beschuldigten bedeutet das heutige Urteil aber noch lange nicht, dass sie vom Haken gelassen werden. Denn das Gericht hat in der Sache gar nichts entschieden – nur, dass der Fall neu aufgerollt werden muss.»

CH Media: «Das Obergericht hat Recht gesprochen»

Die Online-Ausgaben der CH-Media-Zeitungen analysieren auf ihren Webseiten den Entscheid des Obergerichts, das Urteil gegen den Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und weiter Beschuldigte, wie folgt:

«Haben die hoch dotierten und teuren Verteidiger in dem Prominenten-Prozess wieder einmal das Haar in der Suppe gefunden? Nein, das sogenannte Anklageprinzip ist eine elementare Voraussetzung für einen fairen Strafprozess. Die Staatsanwaltschaft ist angehalten, eng bei den konkreten Vorwürfen zu bleiben und auf jede Beeinflussung des Gerichtes zu verzichten. Das Prinzip dient dem Schutz des Bürgers vor dem Staat. Leider kommt genau das im gerichtlichen Alltag aber viel zu oft zu kurz. Gewöhnliche Straftäter haben nicht die finanziellen Mittel und erhalten oft nicht die nötige gerichtliche Achtsamkeit, die es braucht, damit schwerwiegende Verfahrensfehler und ungerechte Urteile vermieden werden können. Das Obergericht hat Recht gesprochen. Doch dem Grundsatz: 'Recht, wem Recht gebührt' wird auch das Schweizer Justizsystem zu oft nicht gerecht.»

NZZ Online: «Blamage für die Zürcher Staatsanwaltschaft»

Die Online-Ausgabe der NZZ schreibt zur Aufhebung des erstinstanzliche Urteils gegen den Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz:

«Die Aufhebung des Urteils beweist, wie schwierig es ist, gerichtlich gegen Wirtschaftskriminalität vorzugehen. Der Abschreckungseffekt des harten erstinstanzlichen Verdikts im Fall Vincenz verpufft. (...) Die Zurückweisung ist eine Blamage für die Zürcher Staatsanwaltschaft, die viel Zeit und Energie für diesen Paradefall aufgewendet hat. Aber auch das Bezirksgericht Zürich, das die Fehler in der Anklageschrift nicht erkannt hat, kommt schlecht weg.»

«Blick»: «Was für ein Debakel für alle Beteiligten!»

Der «Blick» hat auf seiner Webseite den Entscheid des Zürcher Obergerichts, das erstinstanzliche Urteil gegen den Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und weitere Beschuldigte aufzuheben, wie folgt analysiert:

«Was für ein Debakel für alle Beteiligten!» Hier gibt es nur Verlierer. Für die Hauptbeschuldigten Pierin Vincenz und Beat Stocker ist der Beschluss des Obergerichts kein Freispruch. Die angelasteten Vergehen verjähren durch die Verzögerung auch nicht. Bis ein finales, rechtskräftiges Urteil vorliegt, geht es jetzt aber massiv länger. Pierin Vincenz wird weit über 70 Jahre alt sein, bis er weiss, ob er ins Gefängnis muss. Sein Vermögen bleibt sichergestellt, seine Gelder werden nicht freigegeben. Die Urteilsaufhebung mit der Begründung «ausschweifende Anklageschrift» ist peinlich für das Staatsanwaltstrio um Marc Jean-Richard-dit-Bressel. (...) Waren die Egos der Staatsanwälte zu gross und die Faktenlage zu dünn, um eine präzisere Anklage zu formulieren? Offenbar ja. Eine Klatsche ist der Beschluss auch fürs Bezirksgericht. Es hätte die Anklageschrift im Plauderton zurückweisen müssen, anstatt das Urteil nonchalant und in aller Schnelle zu fällen.»