Wenn sie abschalten will, geht SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer in ihren Garten und jätet Unkraut. blue News gewährt sie einen Einblick und erzählt, wie sie im Hinblick auf die Wahlen 2023 den Abwärtstrend ihrer Partei stoppen und die zwei Bundesratssitze sichern will.
Explosionsartig sei der Lavendelstrauch in den vergangenen Wochen gewachsen, sagt Mattea Meyer stolz. In der Tat spriessen die lila Blüten über das Beet hinaus und versprühen einen Hauch von Provence in einem Winterthurer Aussenquartier. Hier lebt die Co-Präsidentin der SP Schweiz mit ihrem Partner und ihren beiden Kindern. Wenn sie nicht gerade gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre oder für bezahlbare Kinderbetreuungsplätze kämpft, nimmt sich Meyer des Gartens an. «Hier kriege ich den Kopf frei und freue mich darüber, wenn Pflanzen wachsen und gedeihen.»
Einen Ausgleich kann die höchste Sozialdemokratin des Landes gut gebrauchen, denn es warten grosse Herausforderungen auf sie und ihre Partei. Zuletzt sorgte SP-Bundesrat Alain Berset mit einem Privatflug durch eine Sperrzone in Frankreich für Schlagzeilen. Eine Partei, deren Magistrat durch die Gegend fliege, während sie sich für Nachhaltigkeit und weniger Flugbewegungen einsetze, verliere an Glaubwürdigkeit. So lautet die Kritik. Meyer hält sich bedeckt. Sie sagt: «Als Bundesrat macht Alain Berset einen grossartigen Job. Sein Hobby und die daraus entstandenen Artikel kommentieren wir nicht.»
Polit-Sommerserie Schulterblick
Im Sommer fährt die Politik einen Gang runter. Wie verbringen Politiker*innen ihre (Frei-)Zeit? Vier Persönlichkeiten aus den vier Bundesratsparteien gewähren einen Schulterblick bei ihren Hobbys. Den Anfang machte SVP-Nationalrätin Esther Friedli, die blue News ihre Eringerkühe zeigte. Dies ist der zweite Teil. Danach geht es für Teil III mit Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel zum Orientierungslauf und schliesslich für den letzten Teil mit FDP-Präsident Thierry Burkart an ein Heavy-Metal-Konzert. (red.)
Auch ungeachtet der Schlagzeilen rund um Alain Berset ist bei den Sozialdemokrat*innen viel los. Bei einem Glas Wasser im Sommergarten nimmt Meyer zu den brennendsten Fragen Stellung.
Der eher rechte SP-Parteiflügel um den Bieler Stadtpräsidenten Erich Fehr kritisiert Sie und Co-Präsident Cédric Wermuth als zu links.
Solche Kritik ist schwierig zu kontern. Mir wäre es lieber, wenn man das Präsidium an seinen Taten messen würde. Wir setzten uns im Rahmen der Corona-Pandemie an allervorderster Front für Wirtschaftshilfen ein und wollen die Kaufkraft stärken. Das ist Politik, die sich auf das Leben der Menschen auswirkt, und ich würde gerne daran gemessen werden.
Was sagen Sie diesen Skeptiker*innen in der SP?
Wir sind eine Volkspartei und weisen eine grosse Breite an politischen Ansichten auf. Erst wenn man Diskussionen zulässt und das Gespräch untereinander sucht, ist man eine spannende Partei.
Schafft es die SP wirklich, diesen Anspruch zu erfüllen? Die Ergebnisse der kantonalen Wahlen zeigen, dass viele Wähler*innen die Grünen oder die Grünliberalen derzeit spannender finden. So haben die Grünen in kantonalen Parlamenten während dieser Legislatur 48 Sitze hinzugewonnen, die Grünliberalen 45. Die SP verbucht dagegen einen Verlust von total 45 Mandaten. Keine Partei hat höhere Verluste.
Gerne hätten die Meyers einen Igel im Garten
Was sagt Meyer dazu? «Die Ergebnisse sind nicht zufriedenstellend. Wir wollen mehr, weil wir im Parlament etwas erreichen wollen.»
Bienen und Schmetterlinge belagern Meyers Blumenbeet, während sie einen Schluck Wasser trinkt. Sie pflanzte eigens Samenmischungen an, welche die Bienen gerne haben, um ihnen ein bisschen Lebensraum zu geben.
«Nur bei der SP gibt es dieses Gesamtpaket, das sowohl ökologisch wie auch sozial ist.»
Meyer blickt in die gegenüberliegende Ecke des Gartens. Dort hätte sie gerne einen etwas anderen Gast: den Igel. So platzierte sie eigens einen Erdhaufen in der Hoffnung, dass sich dort ein Exemplar einnistet. «Bislang kamen aber nur Katzen aus dem Quartier.»
Sie ist eine, die anpackt, und ist daher auch optimistisch, was die nationalen Wahlen 2023 betrifft. «Vor 17 Jahren begann ich mit der Politik, weil ich etwas verändern wollte», sagt sie und genau das gelinge der SP derzeit. «Mit den Grünen ziehen wir am gleichen Strick bei der Klimafonds-Initiative, die demnächst lanciert wird. Vertreter*innen der GLP kämpfen an unserer Seite für bezahlbare Kinderkrippen.»
Das klingt so, als käme es nicht darauf an, ob man SP, Grüne oder Grünliberale wählt
Natürlich spielt es eine Rolle. Wir stärken die Kaufkraft mit unserer Prämienentlastung-Initiative und setzen uns für vollen Teuerungsausgleich bei den Renten ein. Für unsere Versorgungssicherheit und den Klimaschutz wird unsere Klimafonds-Initiative wichtig sein, damit wir schnell in erneuerbare, einheimische Energien investieren können. Nur bei der SP gibt es dieses Gesamtpaket, das sowohl ökologisch wie auch sozial ist.
Wie real ist die Gefahr, dass die SP einen Bundesratssitz verliert?
Wie der Bundesrat künftig aussieht, erfahren wir im Dezember 2023, wenn er gewählt wird. Simonetta Sommaruga und Alain Berset leisten beide hervorragende Arbeit in ihren jeweiligen Departementen.
Dennoch brauchen Sie doch eine Strategie, um die SP-Sitze zu verteidigen?
Wir sind aktuell die zweitstärkste Partei nach der SVP – das wollen wir auch nach den Wahlen 2023 bleiben. Es ist also völlig klar, dass wir Anspruch auf zwei Sitze in der Regierung haben.
Kommt in den Gesprächen mit Simonetta Sommaruga und Alain Berset auch ein strategischer Rücktritt vor? Ein neu besetzter Sitz ist wohl weniger gefährdet als ein langjähriger.
Man soll Bundesräte doch ihre Aufgabe machen lassen. Diese besteht darin, ihr Departement zu leiten und möglichst viel zu bewirken für die Bevölkerung dieses Landes. Es bringt nichts, in eine Kristallkugel zu schauen.
Aber Ihre Aufgabe als Parteipräsidentin ist es, die zwei Sitze in der Regierung zu verteidigen.
Genau. Und darum machen wir bis zu den Wahlen weiterhin genau das, was wir bisher getan haben: Politik, die einen konstruktiven Beitrag zur Lösung für reale Probleme bietet.
Rücktritte sind also ein Tabuthema?
Wir stehen in regelmässigem Austausch mit unseren Bundesrät*innen, dabei können wir über alles reden, was für sie und die Partei wichtig ist.
Plötzlich beginnt es über Meyers Garten zu rauschen. Das Geräusch nähert sich, dann verflüchtigt es sich wieder. Das war wohl eine Drohne, sagt Meyer. Diese würden ihr ein mulmiges Gefühl geben, denn man wisse nicht, wer sie bediene und zu welchem Zweck sie benutzt würden.
«Die Öffentlichkeit muss erfahren, warum man sich für den F-35 entschieden hat, obwohl die finanziellen und technischen Risiken immens sind.»
Künftig soll die Post vermehrt auf Drohnen-Technologie setzen, ergänzt sie skeptisch. Dann lockert sie auf und gibt zu: «In diesen Belangen bin ich vielleicht manchmal ein wenig konservativ.»
Während Meyer die Arbeit ihrer eigenen Bundesräte lobt, spart sie nicht mit Kritik am Gesamtgremium. Etwa, dass der Bundesrat den Kampfjet F-35 erwerben will, obwohl eine Volksbefragung noch aussteht – das sei schwierig. Gemeinsam mit den Grünen und der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) sammelt die SP derzeit Unterschriften gegen den Kampfjet.
Überliest sie damit die Zeichen der Zeit? So wurde vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs jüngst das Armeebudget um zwei Milliarden erhöht. Viele Schweizer*innen wollen mehr Sicherheit vor der Willkür von Disputen wie Wladimir Putin.
Schnecken frassen die ganze Ernte im vergangenen Sommer
«Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass ein atomwaffenfähiger Angriffsflieger das falsche Flugzeug für unsere Luftwaffe ist», sagt Meyer. Dass nach und nach Informationen zum allenfalls fragwürdigen Entscheidungsprozess an die Öffentlichkeit tröpfeln würden, bestärke sie. Auch der jüngst erschienene Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle, der ein finanzielles Risiko konstatierte, werfe Fragen auf. «Nun braucht es Transparenz. Die Öffentlichkeit muss erfahren, warum man sich für den F-35 entschieden hat, obwohl die finanziellen und technischen Risiken immens sind.»
Meyer wuchs in einem ehemaligen Bauernhaus auf und weiss, was es heisst, einen Garten zu bewirtschaften. Sie setzt strikt auf Bio-Behandlung und nimmt auch die Konsequenzen in Kauf. «Im vergangenen Jahr frassen Schnecken unsere gesamte Ernte», sagt sie und blickt auf die Bohnen, den Kürbis und in die mediterrane Ecke, wo Gewürzpflanzen wachsen.
Die Sonnenblumen, die wacker in den Himmel ragen, sind gross gewachsen. Meyers Tochter offenbar nicht gross genug. Sie habe jüngst das Wort «gigantisch» für die Sonnenblumen des Nachbarn benutzt. «Unsere legen in den kommenden Wochen sicher zu.»
Eine weitere Baustelle der SP: Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Hier muss die Partei den Spagat machen. Einerseits gibt es Kräfte, die für einen raschen Beitritt plädieren, andererseits drücken die Gewerkschaften aus Angst vor Lohndumping auf die Bremse.
«Die Schweiz muss als europäischer Staat auch Teil der EU sein.»
«Für uns ist völlig klar, dass die grossen Herausforderungen der Zukunft nur mit internationaler Zusammenarbeit gelöst werden können», so Meyer. «Die Schweiz muss als europäischer Staat auch Teil der EU sein.» In einer Roadmap zeigte die SP auf, wie darauf hingearbeitet werden sollte, im Nationalrat hat die Partei mit ihrem neuen Ansatz bereits eine Mehrheit gefunden. «Europa muss sozialer werden und die Schweiz soll diesen Wandel mitgestalten.»
Die SP besteht aber auf den Lohnschutz?
Selbstverständlich. Die Personenfreizügigkeit ist eine grosse Errungenschaft. Aber nur mit den flankierenden Massnahmen dient sie auch den Arbeitnehmenden. Man nahm die Menschen mit, indem man ihnen sagte: Eure Löhne und Arbeitsbedingungen sind geschützt. Dass man nun die flankierenden Massnahmen infrage stellt und gar aufgeben möchte – so wie es Bundesrat Ignazio Cassis wollte – geht schlichtweg nicht. Wir stehen dazu auch in engem Austausch mit unseren europäischen Schwesterparteien. Sie unterstützen unsere Positionen, weil sie so auch in der EU für den Schutz von Löhnen und Arbeitsbedingungen einstehen können.
Wie soll es weitergehen?
Der Abbruch der Verhandlungen vor einem Jahr und der Stillstand seither ist wahrlich keine Glanzleistung des Bundesrates und vor allem nicht von Aussenminister Ignazio Cassis. In einem Stabilisierungsabkommen, wie es die SP vorschlägt, muss die Schweiz eines klarstellen: Auch wir sind bereit, der EU etwas zu geben. Die Erhöhung des Kohäsionsbeitrags etwa ist eine Option.
Anderes Thema: Über das Rentenalter 65 für Frauen wird bereits am 25. September abgestimmt. Auch hier gibt es SP-Exponent*innen, die nicht auf der Parteilinie sind, wie etwa alt Nationalrat Rudolf Strahm.
Wir werden bis zum Abstimmungssonntag noch viele Gespräche führen und mit unseren Argumenten hoffentlich überzeugen. Denn es geht bei der Vorlage nicht um die Frauen in meiner Generation, sondern um jene, die bereits ihr Leben lang gearbeitet und unentgeltlich Care-Arbeit in Haushalt und Familie übernommen haben. Ich bin nicht bereit, hinzunehmen, dass diese Frauen erneut die Zeche zahlen müssen. Der Rentenverlust von durchschnittlich 26'000 Franken ist zu viel.
Die Ungleichheit findet nicht in der AHV, sondern in der beruflichen Vorsorge statt.
Mehr als ein Drittel der Frauen sind in der zweiten Säule nicht versichert, weil ihre Löhne zu tief waren und sie den Grossteil der unbezahlten Care-Arbeit geleistet haben. Eine von zehn Frauen muss bei Erreichen des Rentenalters direkt Ergänzungsleistungen beziehen, weil das Geld sonst nicht reicht. Ich will, dass auch diese Frauen mit ihren Enkelkindern in den Zoo können und nicht jeden Franken zweimal umdrehen müssen. Deshalb braucht es eine starke AHV. Die Abbauvorlage im September hingegen will die AHV schwächen.
Meyer ist Gleichberechtigung ein grosses Anliegen. Trotz Frauenstreik ist die SP die einzige Bundesratspartei mit einer weiblichen Co-Präsidentin. Müssen auch die anderen umdenken? «Jede Partei muss sich die Frage stellen, wie gleichstellungsfreundlich sie ist und wie sie nach aussen wirken will», sagt sie und blickt zu den Bohnen rüber. Diese seien wohl ihr Lieblingsgemüse und sie mache gerne einen Bohnensalat mit frischen Tomaten.
Braucht es eine Frauenquote?
Es liegt nicht an uns, der SVP oder der FDP vorzuschreiben, welche Parteipräsident*innen sie wählen. Aber: Ich glaube, dass eine Quote eine von vielen Massnahmen sein kann, um die Gesellschaft gleichberechtigter zu machen. Gleichzeitig braucht es Lohngleichheit und mehr Kitaplätze, damit es mit der Vereinbarkeit und Gleichstellung vorangeht und sich Frauen im Beruf und auch in der Politik engagieren können.
Das englische Sprichwort «The grass is always greener on the other side» (Das Gras des Nachbargartens ist immer grüner) trifft wohl auf jenen von Mattea Meyer nicht zu. Denn ihre gesamte Politik ist darauf ausgerichtet, dass es kein mehr oder weniger Grün gibt – alle sollen über dasselbe Grün verfügen. Dafür kämpft sie energisch. Mit Ausnahme ihrer eher klein geratenen Sonnenblumen fährt sie damit auch gut.