Wie homophob ist die Schweiz wirklich
Anfeindungen, Sexualisierung und sogar Gewalt gehören für viele queere Menschen zum Alltag. Auch für «blue News»-Redaktorin Olivia Sasse, deshalb fragt sie sich: Wie queer-freundlich ist die Schweiz eigentlich wirklich?
01.12.2020
2022 haben LGBTQ-Menschen in der Schweiz so viele Angriffe gemeldet wie noch nie. Ihre Verbände fordern Politik und Zivilgesellschaft zum Handeln auf. Hier schildern Betroffene ihre persönlichen Erfahrungen.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Im vergangenen Jahr haben LGBTQ-Personen so viele Angriffe und Diskriminierungen der Helpline gemeldet wie noch nie zuvor.
- Fast ein Drittel der Meldungen stammte von Trans-Personen, darunter die meisten nicht-binär, von insgesamt 134 gemeldeten Übergriffen.
- LGBTQ-Verbände fordern Politik und Gesellschaft zum Handeln auf.
«Ich würde an der Langstrasse nie meinen Freund küssen», sagt Herbert (56): Er hat Angst, wie die Menschen darauf reagieren würden. Wie er sich mit seinem Freund in der Öffentlichkeit zeigt, muss er sich immer gut überlegen. Es geht sogar so weit, dass Herbert, der in Wirklichkeit anders heisst, seinen Namen hier aber nicht nennen möchte, bestimmte Orte meidet.
Filip (38) geht es ähnlich. Auch er überlegt sich, wie fest er seine Homosexualität unterdrücken muss, damit er ohne grössere Schwierigkeiten durch den Tag kommt. «Vom Klub nehme ich nur noch das Taxi nach Hause, sofern mich der Chauffeur überhaupt mitnimmt», sagt Filip. Besonders nachts sei die Hemmschwelle niedrig, Menschen, die nicht dem Mann-Frau-Modell entsprächen, zu beleidigen, zu demütigen, sogar gegen sie gewalttätig zu werden, schildert der Berner seine Erfahrungen. Auch er möchte sich vor Hass-Reaktionen schützen und anonym bleiben.
Filip und Herbert sind keine Einzelfälle – 2022 wurden in der Schweiz so viele Angriffe auf und Diskriminierungen von LGBTQ-Menschen gemeldet wie noch nie. Wie die entsprechende Helpline mitteilt, registrierte sie 134 Übergriffe. Das entspricht drei Meldungen pro Woche. Zudem ist die Dunkelziffer hoch.
2022 – so viele Angriffe und Diskriminierung wie noch nie
Fast ein Drittel der Meldungen stammte von Trans-Personen, darunter die meisten nicht-binär, schrieb die Helpline am Mittwoch zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Trans- und Interphobie.
Diese Entwicklung sei auch auf die zunehmenden Feindseligkeiten von Politik und Medien besonders gegen nicht-binäre Personen zurückzuführen. Die LGBTQ-Verbände forderten deshalb Politik und Zivilgesellschaft zum Handeln auf. Sie zeigten sich besorgt.
Seit einigen Jahren sei bekannt, dass LGBTQ-feindliche Verbrechen in der Schweiz alltäglich seien, hiess es weiter. Die sichtbare Situation habe sich aber nochmals deutlich verschärft: Besonders Angriffe auf Trans-Personen würden immer häufiger gemeldet.
LGBTQ?
- Die englische Abkürzung LGBTQ steht für lesbisch, schwul, bisexuell, transgender und queer. Eine kurze Übersicht:
- Lesbisch: Frauen, die sich sexuell und emotional mehr oder ausschliesslich von Frauen angezogen fühlen.
- Schwul: Männer, die sich sexuell und emotional mehr oder ausschliesslich von Männern angezogen fühlen.
- Bisexuell: Eine Person, die sich romantisch oder sexuell zu zwei oder mehr Geschlechtern hingezogen fühlt. Eine Person, die bisexuell ist, fühlt sich nicht nur zu Männern oder Frauen hingezogen, sondern auch zu Personen, die sich ausserhalb der traditionellen binären Geschlechterkategorien befinden.
- Transgender: Bezeichnet Menschen, deren äusserliche Geschlechtsmerkmale (und damit das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht) nicht, nicht ganz oder nicht immer mit ihrem gefühlten Geschlecht, dem sogenannten Identitätsgeschlecht, übereinstimmen.
- Queer: In der Schweiz wird queer oft als Sammelbezeichnung für lesbisch, bisexuell, schwul, trans und mehr, aber auch als eigenständige Selbstbezeichnung verwendet, die die begrenzenden Kategorien «homo-/heterosexuell», «männlich/weiblich», «cis-/transgeschlechtlich» infrage stellt.
Existenzberechtigung wird angegriffen
Da bei dieser Personengruppe die Dunkelziffer hoch sei, lasse sich zwar nicht auf eine Zunahme der Hassverbrechen gegen sie schliessen. In der letzten Zeit seien aber die Existenzberechtigung und die elementarsten Rechte von trans und nicht-binären Personen zunehmend öffentlich infrage gestellt worden.
Dass dabei auch Bundesrat und Medien mitmachen würden, sei inakzeptabel. Mit dem Hinweis auf den Bundesrat ist eine Bemerkung von alt Bundesrat Ueli Maurer bei seiner Rücktrittsankündigung gemeint. Er wolle für seine Nachfolge kein «Es». Maurer bezeichnete das als bewusste Provokation und die Kritik daran als Zeichen der «Dekadenz der Gesellschaft».
Solche Haltungen seien fatal für die Sicherheit und psychische Gesundheit von Trans-Personen, hielt die Helpline fest. Gerade im öffentlichen Raum seien sie besonders vielen Feindseligkeiten ausgesetzt.
Warum die Angriffe zugenommen haben, darüber können auch Filip und Herbert nur mutmassen. «Vor 10 Jahren habe ich mich sicherer gefühlt», sagt Herbert.