Debatte um Organspende «Ein Akt der Solidarität» – «Die Grenze des Staats ist die Haut des Menschen»

Von Lia Pescatore

19.4.2022

Leben retten – doch zu welchem Preis? Am 15. Mai stimmt die Schweiz über den Paradigmenwechsel ab. (Archivbild)
Leben retten – doch zu welchem Preis? Am 15. Mai stimmt die Schweiz über den Paradigmenwechsel ab. (Archivbild)
Keystone/Gaetan Bally

Die Befürworter*innen betonen das Leid der Betroffenen, der Gegenseite geht es um grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens. Der Systemwechsel bei der Organspende ist ein emotionales Thema. Die fünf wichtigsten Streitpunkte.

Von Lia Pescatore

Es ist ein Wechsel, der auf den ersten Blick minimal erscheint: Neu sollen alle als potenzielle Organspender gelten. Zum Organspender wird, wer sich zu Lebzeiten nicht ablehnend dazu geäussert hat und dessen Angehörige nicht von einem Widerspruch wissen.

Über diesen Paradigmenwechsel stimmen wir am 15. Mai ab. Das Ja-Lager erhofft sich von der sogenannten erweiterten Widerspruchslösung mehr Organspendenden, die Gegner*innen befürchten eine Abwertung persönlicher Rechtsgüter. 

Zählen nur die Betroffenen?

Über 1'450 Menschen warten derzeit auf ein Spendeorgan, jede Woche sterben laut Swisstransplant zwei Menschen, für die nicht rechtzeitig ein passendes Organ gefunden wurde. Die Betroffenen stehen klar im Zentrum der Ja-Kampagne. «Die Organspende ist ein Akt der Solidarität und Menschlichkeit», jeder könnte auf der Warteliste landen und auf eine Spende angewiesen sein, betont auch Franz Immer, Direktor von Swisstransplant, im Gespräch mit blue News.

Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle, Mitglied des Referendumkomitees, kritisiert diese Fokussierung: «Die Debatte ist moralisch aufgeladen», eine Diskussion auf einer argumentativen Ebene sei so nicht möglich. «Dass es über die Betroffenheit hinaus um ganz grosse Grundsatzfragen des Zusammenlebens und des Rechtsstaates gehe, das hat keinen Platz.»

An der Argumentation der Befürworter*innen stört sich auch Thomas Gächter, Staatsrechtler und Dekan der Rechtsfakultät der Universität Zürich – besonders am Begriff «Organmangel». «Wo ein Mangel besteht, muss auch reagiert werden», sagt Gächter. Daraus resultiere ein gewisser Anspruch der Personen, die auf ein Organ warten würden. «Das ist eine Vergemeinschaftlichung des menschlichen Körpers.»

Ein Angriff auf die Menschenwürde?

Doch ist die neue Lösung überhaupt rechtskonform? «Die Widerspruchslösung ist nicht per se problematisch», sagt Gächter. Sie sei aber eine Veränderung, die «schräg in der ganzen Rechtslandschaft liegt».

Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die in der Debatte rund um das Sexualstrafrecht und die Impfpflicht eine grosse Rolle spiele, werde hier kaum ins Feld geführt. «Der Abstimmungskampf fokussiert sich auf die Betroffenen, die ein Organ benötigen, und die Warteliste.»

«Die Organspende ist ein Akt der Solidarität und Menschlichkeit»

Franz Immer

Direktor Swisstransplant

Für Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle ist die Widerspruchslösung nicht zu rechtfertigen: «Die Bürger*innen müssten in Zukunft Widerspruch einlegen, damit der Staat ihre Integrität auch am Lebensende auf einer Intensivstation schützt.» Das Abwehrrecht gegenüber dem Staat sei aber ein wichtiger Bestandteil des Rechtssystems, mit der Widerspruchslösung werde dieses umgangen. Damit werde auch die Basis des Gesetzeskonstrukts, die Menschenwürde, angegriffen: «Die Grenze des Staats ist die Haut eines Menschen», sagt die Ethikerin. 

«Die Situation, die hier kritisiert wird, gehört zum Alltag im Spital dazu», entgegnet Franz Immer von Swisstransplant. Man habe häufig mit nicht ansprechbaren Patient*innen zu tun, die nicht mehr selbst entscheiden könnten und deren Angehörige nicht erreichbar seien. «Jedem dieser Patienten begegnen wir mit dem nötigen Respekt und der Würde, auch vor dessen soziokulturellem Hintergrund.»

Er mache sich darum keine Sorgen, dass der Systemwechsel zu einer Verletzung der Menschenwürde führe, sagt Immer. Darum sei aber auch die Erweiterung der Widerspruchslösung so wichtig, damit die Angehörigen Stellung nehmen könnten, bevor etwas passiere.

Organspenden in Zahlen

  • 1'434 Menschen warteten Ende 2021 auf ein Spenderorgan.
  • 713 Personen sind inaktiv auf der Warteliste. Das heisst, sie kommen aus gesundheitlichen Gründen momentan nicht für die Transplantation infrage.
  • Rund zwei Drittel warten auf eine Niere, durchschnittlich vergehen drei Jahre bis zur erfolgreichen Transplantation.
  • Das am besten verfügbare Organ ist die Lunge: Im Median vergingen letztes Jahr zwischen Eintrag in der Warteliste und Transplantation 123 Tage.
  • 609 Organe wurden im Jahr 2021 transplantiert, 484 davon von verstorbenen Spendern, 125 von lebenden.
  • Müssen die Angehörige die Entscheidung für oder gegen die Organspende treffen, entscheiden sich 60 Prozent dagegen. 

«Das Bundesgericht hat die Widerspruchslösung als verhältnismässig eingestuft», wendet Immer zudem ein. Er bezieht sich auf einen Entscheid aus dem Jahr 1997. Das Bundesgericht stufte die Widerspruchslösung als zulässig ein, knüpfte dies jedoch an eine Bedingung. Der Wechsel müsse mit einer regelmässigen Information der Bevölkerung einhergehen, wobei sichergestellt werden müsse, dass die «Information sämtliche Bevölkerungskreise erreicht und insbesondere auch von fremdsprachigen Personen verstanden wird».

Wie soll Unwissenheit verhindert werden?

Das Urteil des Bundesgerichts erachtet Baumann-Hölzle wegen dieser Bedingung als hochproblematisch: «Man kann nicht gewährleisten, dass alle Bürger*innen umfassend informiert werden.» Gerade Personen mit Lese- oder Schreibschwächen oder zu geringen Sprachkenntnissen beispielsweise würden benachteiligt.

Informationen, wie zum Beispiel genauere Details der Organentnahme sowie Details zum Zustand des Hirntodes, dürften nicht unterschlagen werden. «Viele wissen zum Beispiel nicht, dass nach einem künstlich ausgelösten Herzkreislaufstillstand und folgendem Hirntod nochmals reanimiert wird, um die Organe frisch zu halten» – dabei werde der Blutzufluss zum Hirn unterbrochen, erklärt Baumann-Hölzle. «Menschen müssen über diese Aspekte informiert sein, um ihre Entscheidung frei treffen zu können.»

«Das Problem ist, dass sich nur die wenigsten mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen wollen.»

Ruth Baumann-Hölzle

Ethikerin und Mitglied des Referendumskomitees

«Wenn es ein Wechsel gibt, dann muss der Bund flankierend über die Änderung informieren», sagt Franz Immer. Er verweist auf die Erfahrungen im Ausland. England und die Niederlande, die in den letzten Jahren auf die erweiterte Widerspruchslösung umgestellt haben, hätten mit ihren Kampagnen 85 Prozent der Bevölkerung erreicht. Dafür sei einerseits ein grosses Budget nötig gewesen, andererseits seien gewisse Bevölkerungsschichten auch gezielt durch Meinungsbildner angesprochen worden. 

Für Gächter und Baumann-Hölzle ist es entscheidend, dass die Bevölkerung regelmässig mit der Frage der Organspende konfrontiert werde. Sie unterstützen darum den Vorschlag der Nationalen Ethikkommission. Die Menschen sollen regelmässig zu ihrem Standpunkt befragt werden, zum Beispiel beim Spitaleintritt oder beim Arztbesuch, und ihre Angaben dann ins elektronische Patientendossier übertragen werden.

«Das Problem ist, dass sich nur die wenigsten mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen wollen», sagt Baumann-Hölzle. Die Menschen müssten die Frage nach der Organspende aber aushalten, «sie können die Frage immer noch mit ‹Ich weiss nicht› beantworten».

Wie viel zählt die Meinung des Einzelnen?

Ein wichtiges Argument der Befürworter ist es, dass die Schweizer Bevölkerung sehr positiv zur Organspende stehe. Durch die Einführung der Widerspruchslösung könne diese Einstellung besser abgebildet werden. Eine von Swisstransplant beauftragte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demoscope kam auf eine Zustimmung von 80 Prozent.

Zu einem deutlich tieferen Ergebnis kommt jedoch die letzte Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2019. 53 Prozent gaben dabei an, eher oder voll und ganz zur Spende bereit zu sein, 47 Prozent waren entweder eher oder bestimmt dagegen. 

Zweifel an den hohen Zustimmungswerten äussert auch Staatsrechtler Thomas Gächter. Wenn die Zustimmung so hoch wäre in der Bevölkerung, hätten die Kampagnen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) in den letzten Jahren bereits eine Wirkung erzielt, sagt er – zum Beispiel einen Anstieg bei Personen mit Spenderausweis oder bei der Zustimmungsrate bei Entscheiden der Angehörige. Dies sei aber nicht der Fall.

«Die Einstellung, dass eine Organspende selbstverständlich ist, ist nicht verankert in der Bevölkerung», glaubt Gächter. «Die Vermutung, dass jemand, der nichts sagt, seine Organe spenden will, empfinde ich darum als kontrafaktisch.»

«Die Einstellung, dass eine Organspende selbstverständlich ist, ist nicht verankert in der Bevölkerung.»

Thomas Gächter

Staatsrechtler an der Universität Zürich

Für Baumann-Hölzle ist das Abstützen auf die Mehrheitsmeinung per se nicht vertretbar. «Der Entscheid muss beim individuellen Menschen liegen, nicht bei der Gesellschaft», ein Paradigmenwechsel könne auch durch eine Abstimmung nicht gerechtfertigt werden.

Von einer Organspende könne man nur sprechen, wenn die Einwilligung der Person auch ohne Zweifel bekannt sei, «sonst handelt es sich unter Umständen um eine Organentnahme gegen den Willen des Betroffenen». Dies sei auch wichtig für die Organtransplantierte: «Wie soll ich mit einem Organ leben, von dem ich nicht sicher bin, dass es freiwillig hergegeben wurde?»

Die Folgen – eine höhere Spenderrate?

Franz Immer von Swisstransplant erhofft sich, dass durch die Einführung der Widerspruchslösung die Organspende zur Normalität werde und die Zahl der Organspender*innen ansteigt – in England und den Niederlanden sei die Ablehnungsrate seit der Einführung der Widerspruchslösung um sechs Prozent pro Jahr gesunken.

Eine Analyse des Bundes aus dem Jahr 2018, die internationale Studien zum Thema verglichen hat, kommt jedoch zum Schluss, dass eine Kausalität zwischen dem Willensäusserungsmodell und der Spenderrate nicht feststellbar sei. Auch die Nationale Ethikkommission kam 2019 in einem Bericht zu einem ähnlichen Resultat.

«Die Widerspruchslösung ist ein kleines Mosaiksteinchen», sagt Immer von Swisstransplant dazu. In den letzten Jahren seien die Strukturen, die Erkennung von möglichen Spender*innen, die Gespräche mit den Angehörigen professionalisiert worden. Bei dieser Arbeit sei festgestellt worden, dass die Unsicherheit der Angehörigen gross sei, durch die Widerspruchslösung sollten diese entlastet werden. «Ich bin überzeugt, dass die Zahlen mit der Zeit steigen werden.» Alle Länder mit Widerspruchslösung hätten eine höhere Spenderquote als die Schweiz.

Weder Baumann-Hölzle noch Gächter glauben, dass sich mit der Widerspruchslösung ein Sprung bei den Spender*innen ergeben wird.

«Die Widerspruchslösung ist ein kleines Mosaiksteinchen.»

Franz Immer

Direktor Swisstransplant

Gächter befürchtet zudem, dass die Abstimmung auch in anderen Bereichen Folgen haben könnte: «Wenn ein Gut wie die körperliche Integrität schwächer geschützt ist, dann sind andere Güter wie zum Beispiel persönliche Daten auch weniger wert.» So gebe es bereits Diskussionen, ob eine Widerspruchslösung auch bei medizinischen, persönlichen Daten eingeführt werden könne, um diese der Forschung zugänglich machen zu können.

Auch Baumann-Hölzle sieht die Abstimmung als Präzedenzfall an. «Wenn wir davon ausgehen, dass Schweigen Zustimmung bedeuten soll, heisst das auch, dass man in Zukunft auch andere Sachen entwenden darf, sofern man sich zuvor nicht dagegen gewehrt hat.»

Bundesrat eröffnet Abstimmungskampf zu neuen Organspende-Regeln

Bundesrat eröffnet Abstimmungskampf zu neuen Organspende-Regeln

Neu soll jede und jeder beim Tod automatisch für eine Organspende infrage kommen, wenn er oder sie sich zu Lebzeiten nicht explizit schriftlich dagegen geäussert hat oder die Hinterbliebenen es ablehnen. Der Bundesrat eröffnete am Dienstag den Abstimmungskampf zur erweiterten Widerspruchslösung, die er wie das Parlament befürwortet.

22.02.2022