«Dramatische Lage» Kaum Insekten am Kühlergrill? Gut fürs Auto, schlecht für dich

Von Anne Funk und Julian Weinberger

10.8.2022

Nach einer Autobahnfahrt kleben zwar noch immer Insekten am Auto, aber bei weitem nicht mehr so viele wie noch vor einigen Jahren.
Nach einer Autobahnfahrt kleben zwar noch immer Insekten am Auto, aber bei weitem nicht mehr so viele wie noch vor einigen Jahren.

«Früher war ein Riesengesumme, dieses Jahr war es relativ ruhig»: Im Gespräch mit «blue News» warnt ein Experte vor den dramatischen Folgen des Insektensterbens. Noch ist es aber nicht zu spät.

Von Anne Funk und Julian Weinberger

Mit dem Auto in die Ferien nach Italien oder für einen Kurztrip ins Tessin: Viele Schweizer*innen nutzen ihren Wagen, um die schönste Zeit des Jahres andernorts zu verbringen. So gross die Freude ist, nach mehrstündiger Fahrt am Ziel anzukommen, so gross ist auch der Frust beim Blick auf die Front des Autos. Über und über sind Windschutzscheibe und Nummernschild mit toten Insekten bedeckt.

Doch wer in diesem Jahr genauer hinschaut, wird merken, dass die Menge der anklebenden Insekten deutlich geringer geworden ist, als es beispielsweise noch vor zehn Jahren der Fall war.

Zu diesem Ergebnis kam auch eine britische Studie der Organisation Bugs Matter zusammen mit dem Kent Wildlife Trust, die an diesem sogenannten «Windschutzscheibenphänomen» angelehnt ist. Dabei wurden Hunderte Bürger*innen aufgefordert, im Sommer 2021 nach Fahrten mit ihren Autos die toten Insekten auf ihren Nummernschildern zu zählen.

Im Vergleich mit einer bereits 2004 in gleicher Weise durchgeführten Untersuchung stellte sich heraus, dass in England 65 Prozent weniger Tiere gezählt wurden, in Wales 55 Prozent und in Schottland 28 Prozent weniger. 

Dramatische Lage im Schweizer Mittelland

Vergleichbare Studien hierzulande fehlen zwar, die Lage in der Schweiz ist aber ebenso alarmierend. Als «besorgniserregend» beschrieben Forschende im Zustandsbericht «Insektenvielfalt in der Schweiz», der vom Forum Biodiversität der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz  veröffentlicht wurde, bereits im September 2021 die Situation.

Einer der Autoren des Berichts, Roland Mühlethaler, bestätigt im Gespräch mit blue News: «Im Frühsommer, wenn die Linden blühen, war früher ein Riesengesumme von Bienen. Dieses Jahr war es relativ ruhig.»

Der Forscher Roland Mühlethaler sind beim Schutz von Insekten Nachholbedarf.
Der Forscher Roland Mühlethaler sind beim Schutz von Insekten Nachholbedarf.
zVg

Die Zahlen des Berichts sprechen eine deutliche Sprache: 60 Prozent der 1153 Insektenarten seien gefährdet oder potenziell gefährdet. Seit etwa Mitte des Jahrhunderts habe man «in der Schweiz grosse nationale, regionale und lokale Verluste bei der Insektenvielfalt und abnehmende Populationsgrössen festgestellt, am ausgeprägtesten im Mittelland», heisst es. «Dramatisch» sei dort die Lage, betont Mühlethaler mit Nachdruck.

Jede*r Einzelne kann etwas gegen Insektensterben tun

Seit der Veröffentlichung des Berichts habe ihn zwar positive Resonanz aus der Politik erreicht, aber der Experte weiss: «Man müsste noch viel mehr tun, um die Insekten aktiv schützen zu können.» Ökologisch betrachtet stehen viele Insekten am Anfang der Nahrungskette. Brechen diese ökologischen Netzwerke weg, «reisst das viel mit», warnt der Forscher gegenüber «blue News».

Alternativen von Menschenhand seien aber weder eine langfristige noch eine kostengünstige Lösung. Technologien, die die Arbeit von Insekten ersetzen könnten, würden «Wahnsinnssummen» verschlingen und überhaupt gelte laut Mühlethaler der Grundsatz: «Was über Jahrmillionen zwischen Bestäuber und Blüten entstanden ist, kann man nicht innerhalb von wenigen Jahren versuchen mit Technik zu lösen.»

Um langfristig etwas am Insektensterben zu ändern, zieht der Wissenschaftler deshalb die Politik in die Verantwortung. Doch Gesetzesänderungen und grosse Programme seien nicht genug, auch jede und jeder Einzelne könne aktiv werden, appelliert Roland Mühlethaler. Das beginne etwa beim Konsumverhalten: «Jeder und jede kann sich überlegen, welche Lebensmittel er oder sie kauft und woher diese kommen.»

Hitzeperioden sind nicht zwingend schlecht für Insekten

Regionale Produkte zu kaufen oder Biobetriebe zu unterstützen, komme auch Insekten zugute. Im eigenen Garten könne man mit Blühangeboten helfen, so Mühlethaler. Insgesamt sieht er aber noch Nachholbedarf, um für das Problem des Insektensterbens Bewusstsein in der breiten Gesellschaft zu schaffen. «Dabei kann man es kurz und knapp sagen: Ohne Insekten könnten wir Menschen nicht überleben auf der Erde», erklärt der Forscher.

Die aktuell häufig auftretenden Hitzeperioden müssen indes nicht zwingend schlecht für den Insektenbestand sein, schliesslich seien sie «wärmeliebende Tiere». Erst wenn fremde Arten einheimische Insekten verdrängen, können Probleme auftreten. Ausserdem begünstige Hitze die Ausbreitung von Schädlingen wie Borkenkäfern, erklärt Mühlethaler: «Dann hat man zwar mehr Insekten, aber nicht die, die man haben möchte.»

Allgemein sei der Klimafaktor laut des Experten aber nicht entscheidend. Problematischer seien der «Verlust der Landschaft und geeigneter Lebensräume sowie zu intensive Landwirtschaft». Trotz aller Schwierigkeiten blickt Roland Mühlethaler optimistisch in die Zukunft: «Ich denke positiv und weiss, dass sich Insekten relativ schnell wieder erholen können.» Nur zum «Point of no return» dürfe man es nicht kommen lassen.

Autonummern belegen riesiges Insektensterben

Autonummern belegen riesiges Insektensterben

In Grossbritannien konnten Wissenschafter*innen mit einer ungewöhnlichen Methode beweisen, dass Fluginsekten immer seltener werden. Auch in der Schweiz surrt es viel weniger als früher. Und das ist ein Problem.

17.05.2022