Pädagogen ohne Diplom «Kinder haben das Recht auf qualifizierte Lehrpersonen»

Von Alex Rudolf

24.7.2022

Mehr und mehr Personen ohne klassisches Lehrerdiplom treten vor Schweizer Schulklassen.
Mehr und mehr Personen ohne klassisches Lehrerdiplom treten vor Schweizer Schulklassen.
KEYSTONE/CHRISTIAN BEUTLER

Ab kommendem Schuljahr arbeiten in der Stadt Zürich 88 Lehrpersonen ohne klassische Ausbildung. Der Lehrerverband ist skeptisch und forderte langfristige Massnahmen.

Von Alex Rudolf

Der Mangel an Lehrkräften spitzt sich zu. In vielen Städten und Gemeinden sind zahlreiche Stellen für nach den Sommerferien noch unbesetzt. Die Gründe sind vielfältig.

So werden einerseits zahlreiche Lehrer*innen der Baby-Boomer-Generation derzeit pensioniert und andererseits arbeiten nur noch wenige Lehrer*innen Vollzeit. Dass viele aussteigen, legt auch nahe, dass sich die Attraktivität und Rahmenbedingungen des Berufs verschlechtert haben.

Dies führt zu teils kreativen Lösungen.

Die drastischsten Massnahmen hat wohl der Kanton Zürich ergriffen. Dort dürfen Lehrpersonen ohne Ausbildung für ein Jahr unterrichten. Nach Angaben der «Limmattaler Zeitung» werden in der Stadt Zürich nach den Sommerferien 88 Pädagog*innen ohne Diplom vor eine Klasse treten. Noch in den Sommerferien sollen die Neu-Pädagog*innen eine Fachausbildung erhalten.

Laut Schulvorsteher Filippo Leutenegger (FDP) hätten von den ehemals 400 offenen Stellen 350 mit vorwiegend ausgebildeten Lehrpersonen besetzt werden können.

Derzeit lehren in Bern rund 1500 ohne Diplom

Im Kanton Bern sind für das kommende Schuljahr derzeit noch 38 unbefristete Stellen für Lehrpersonen offen, wie Yves Brechbühler, Sprecher der Bildungs- und Kulturdirektion, sagt. Hinzu kommen 33 Stellen, die befristet ausgeschrieben wurden.

Noch vor zwei Monaten zählte man noch rund 500 unbesetzte Stellen im Kanton Bern. Können auch hier Personen ohne entsprechende Ausbildung unterrichten? Damals ging man davon aus, dass rund 1500 Personen ohne anerkanntes Diplom in Lehrerberufen tätig sind.

Bereits im vergangenen Jahr lockerten zahlreiche Kantone die Anforderungen an die Lehrerausbildungen aufgrund von Lehrerknappheit. So durften damals beispielsweise Studierende der Pädagogischen Hochschule, die das Basisstudium abgeschlossen haben, PH-Studierende, die durch die Prüfungen gefallen sind, oder auch Studienabbrecher*innen  unterrichten. Was ging seither?

Zur Bekämpfung der Lehrer*innen-Knappheit habe der Kanton Bern gemeinsam mit dem kantonalen Verband der Schulleiter und der Pädagogischen Hochschule Bern bereits Massnahmen umgesetzt. 

So würden junge Lehrpersonen besser begleitet, indem ihnen Menor*innen zur Seite gestellt würden. Ehemalige würden durch Aufrufe bei Pensionierten und Kulturschaffenden zum Wiedereintritt in den Beruf animiert. Zudem würden auch vermehrt Studierende eingesetzt. «Auch wurden unter anderem eine Gehaltsverbesserung für die Primarstufe umgesetzt und eine Imagekampagne durchgeführt», so Brechbühler.

Lehrerverband nicht begeistert

Wie reagiert der Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerverband darauf, dass es kein Lehrerdiplom mehr braucht, um eine Klasse zu unterrichten? Nicht begeistert. Beat Schwendimann von der Geschäftsleitung sagt zu blue News: «Jedes Kind hat das Recht, von einer qualifizierten Lehrperson unterrichtet zu werden.»

Der Lehrerberuf sei anspruchsvoll und erfordere eine gründliche Ausbildung. «Personen, die nur eine verkürzte oder gar keine pädagogische Ausbildung erhalten haben, können den hohen Anforderungen kaum gerecht werden.»

Wie würde der Verband die akute Lehrpersonen-Knappheit bekämpfen? Wichtig sei, dass solche Notmassnahmen zeitlich befristet seien. «Strukturelle Missstände können nicht dauerhaft so behoben werden», sagt Schwendimann. Um Lehrpersonen langfristig im Beruf zu halten, brauche man gute Arbeits- und Anstellungsbedingungen.

Ein Blick in die Westschweiz zeigt, dass der Mangel an Lehrpersonen dort weniger akut ist. So müssen Genfer Schulen weniger oft auf unqualifiziertes Personal zurückgreifen als jene im Kanton Zürich. Dies schreibt «Schweiz aktuell» des SRF. 

Was macht Genf anders? Einerseits gibt es geringe Lohnunterschiede zwischen den Stufen. Egal ob im Kindergarten, der Sekundarschule oder der Berufsschule: Die Lehrer*innen verdienen ähnlich viel. Darüber hinaus ermöglicht Genf keine kleinen Pensen. Lehrpersonen müssen mindestens 50 Prozent arbeiten. So unterrichten in Genf 52 Prozent der Lehrpersonen beinahe Vollzeit, während es in Zürich nur etwa 25 Prozent sind.