Die erste Wahl«Jetzt hab ich tatsächlich panaschiert, oder?»
Von Gil Bieler
18.10.2023
Bei den diesjährigen National- und Ständeratswahlen können viele Schweizer*innen zum ersten Mal mitbestimmen. Sei es, weil sie volljährig wurden – oder eingebürgert. Eine Premiere mit so einigen Fragezeichen.
Von Gil Bieler
18.10.2023, 17:09
19.10.2023, 14:44
Gil Bieler
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Am Sonntag wählt das Schweizer Stimmvolk die Mitglieder des National- und Ständerats für die Jahre 2023 bis 2027.
Für viele Schweizer*innen ist es das erste Mal überhaupt, dass sie bei einer eidgenössischen Wahl mitentscheiden können.
blue News hat Erstwähler*innen gefragt, wie verständlich sie das Wahlprozedere finden.
Monica* schwirrt der Kopf, man sieht es. «So viele Namen? Was mache ich denn damit?», fragt sie ratlos. Die 36-jährige Zürcherin sitzt an ihrem Küchentisch und hat gerade das Couvert mit den Wahlunterlagen für die National- und Ständeratswahlen ausgepackt. Die Zettel, Broschüren und Listen nehmen die gesamte Tischplatte ein.
Letzte Chance für Briefwahl
Wenn du brieflich abstimmen willst, musst du dich sputen. Die empfohlene Frist für den normalen Weg ist nämlich schon vorbei. Du kannst aber das Stimmcouvert frankieren und per A-Post losschicken: Die Post empfiehlt, die A-Post bis spätestens 19. Oktober abzuschicken. Danach musst du deine Stimme bei einem offiziellen Stimmlokal einwerfen, was bis zum Sonntag um 12 Uhr möglich ist.
Obwohl Monica 36 Jahre alt ist, ist es für sie eine Premiere: Die Sri-Lankerin ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen, wurde aber erst vor Kurzem eingebürgert. Darum kann sie heuer zum ersten Mal überhaupt ihre Stimme abgeben. Und sie will dieses Recht nutzen – im Gegensatz zu rund der Hälfte der Wahlberechtigten. Die Stimmbeteiligung pendelt bei eidgenössischen Wahlen jeweils zwischen 40 und 60 Prozent.
Fiona (18) aus dem Aargau ...
... könnte erstmals wählen, verzichtet aber: «Ich wähle noch nicht, da ich mich mit meiner zukünftigen Karriere beschäftige und mich nicht zusätzlich noch mit andern Dingen beschäftigen möchte. Im Moment liegen meine Interessen woanders, aber ich werde auf jeden Fall in der Zukunft anfangen zu wählen!» (gbi)
Doch wählen ist einfacher gesagt als getan. Monica blättert durch das Heft der Parteilisten und weiss kaum, wo anfangen. Mit 44 Listen werben die Parteien und Einzelkandidat*innen im Kanton Zürich um die Gunst der Wählerschaft. Von A wie Alternative Liste bis Z wie zh.digital reicht das Spektrum. Es sind so viele Wahllisten wie noch nie. «Und wieso sind manche Namen doppelt aufgeführt?» Auch das gibt ihr Rätsel auf.
Beim Ständerat ist alles klar, beim Nationalrat gar nicht
Monica lässt den Nationalrat erst einmal beiseite. Stattdessen greift sie zum blauen Zettel für die Ständeratswahlen. Zwei Linien für zwei Namen von zwei Kandidierenden sind auszufüllen, das findet sie recht selbsterklärend. Auch die Liste mit den offiziellen Kandidat*innen der Parteien sei schön übersichtlich, findet sie.
Ständerat geschafft. Wie sie aber ihre Stimme für den Nationalrat abgeben soll, ist ihr ein Rätsel. Sie stöbert in der Wahlanleitung und sieht, dass es ein Erklärvideo gibt. Handy gezückt, QR-Code gescannt. Ein Fuchs tapst über ihren Handybildschirm, erklärt kurz und knapp, wie man wählt. Aber das Video lässt Monica mit weiterhin offenen Fragen zurück. «Wo ist denn der Stimmzettel?», fragt sie irritiert. Und schaut das Video noch einmal an.
18 junge Männer ...
... aus einem Zürcher Nachwuchs-Unihockeyteam hätten heuer die Chance, zum ersten Mal ihre Stimme zur Zusammensetzung der Bundesversammlung abzugeben. Wahrnehmen wollen sie diese aber allesamt nicht. Die meisten lassen das Wahlcouvert ungeöffnet. Einer, der doch wählt, tut dies auf familiäre Anordnung hin: «Mein Mami füllt meine Abstimmungsunterlagen aus, ich muss nur unterschreiben», gesteht einer der Spieler. (dmu)
«Ach so, ich muss die Liste aus dem Heft herausreissen!» Jetzt fällt der 20er. «Das ist gar nicht mal so logisch», erklärt sich die Erstwählerin. Sie habe ja schon mehrfach abgestimmt, doch dafür nutze man ja die kleinen Stimmzettel. So wie bei den Ständeratswahlen. Das dicke Heft mit den Nationalrats-Wahllisten hielt sie dagegen für Informationsunterlagen. «Ich wollte das schon fast ins Altpapier werfen.»
«Kann ich denn die Badran nicht wählen»?
Monica studiert die Auswahl der Parteilisten und findet eine, die ihr passt. Nur ein Problem bleibt: «Kann ich denn die Badran nicht auch wählen?» Doch, kann sie natürlich: Indem sie die Liste von Hand bearbeitet. Nochmals muss der Fuchs über dem Handyscreen tanzen, dann kritzelt Monica den Namen wie beschrieben auf die Wahlliste. «Jetzt hab ich tatsächlich panaschiert, oder?», fragt sie erfreut. «Was für ein Wort!»
Couvert zugeklebt, eingeworfen – so wurde die 36-Jährige zur Wählerin.
Zwei Tage später, eine Nachfrage: Ist Monica happy mit ihrer Wahl? Grundsätzlich ja, antwortet sie. Aber als sie am Wahlplakat eines «ihrer» Kandidaten vorbeigekommen sei, habe sie kurz gestutzt: «Ich dachte mir nur: Hui, der ist ja richtig alt.»
*Name geändert
Dirk* (42) aus Graubünden ...
... ist gebürtiger Deutscher und hat erst seit Kurzem den Schweizer Pass: «Für den Nationalrat wählen geht noch, ich fand die Anleitung hilfreich. Aber die Menge an Listen ist dann doch zu viel des Guten. Ausserdem war mir nicht klar, was es mit den Listenverbindungen auf sich hat. Das war nirgends erklärt, und ich musste es mir im Netz zusammensuchen. Ich wollte das aber wissen, weil wenn ich schon wähle, dann richtig. Die Ständeratswahlen sind aber eine Katastrophe: einfach ein Wahlzettel, doch keine Anleitung, nix. Generell fand ich als politisch interessierter Mensch mich gut zurecht, aber für viele andere ist das sicher komplizierter. Ich finde es auch speziell, dass man Kandidat*innen nicht einfach per Ankreuzen wählen kann, sondern die Namen von Hand aufschreiben muss.» (gbi) *Name geändert
Passend zum Thema: Unser Erklärvideo zu den Listenverbindungen
Die Tücken von Listenverbindungen
Gehen Parteien Listenverbindungen ein, kann es sein, dass du eine Partei wählst, deine Stimme aber einer anderen Partei zugutekommt. Warum Parteien trotzdem Listenverbindungen eingehen, erfährst du im Video.