CoronavirusHirnschäden und psychische Folgen – «Entwicklung ist besorgniserregend»
Von Jennifer Furer
17.8.2020
Welche Langzeitfolgen hat Corona auf uns? Dieser Frage gehen Wissenschaftlerinnen weltweit nach. Antworten sind derzeit nicht einfach zu finden. Das sagen Schweizer Psychologinnen und Psychiater dazu.
Das Coronavirus verändert unser Leben fundamental: die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, die Politik, unser Zusammenleben. Auch unsere Psyche reagiert auf die nie dagewesene Krise – und das nicht nur positiv.
Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen sagt: «Seit den Sommerferien erlebe ich in der Praxis ein Ansturm an Anfragen.» Das sei für diese Jahreszeit untypisch und bereite Adler Sorgen.
«Besonders, weil ich diese Patienten selbst nicht übernehmen kann, aber auch keine anderen Behandler angeben kann, die freie Kapazitäten haben», so Adler. «Hier haben wir ein grosses Versorgungsproblem.»
Unklar ist, ob sich dieses Versorgungsproblem lösen lässt, welche Langzeitfolgen dies mit sich bringt und – ohnehin – was das Coronavirus langfristig mit unserer Psyche macht.
Eine Frage, die im Moment nicht einfach zu beantworten ist. «Da dieses Problem noch relativ jung ist, befindet sich dieser Zweig der Wissenschaft noch in einem frühen Stadium, welches man als deskriptiv bezeichnen könnte», sagt Thomas Knecht, Leitender Arzt des Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserhoden.
Folgen fürs Gehirn?
Das heisst: Man befinde sich immer noch in der Phase des Sammelns, des Beschreibens und der Einzelfallanalyse. «Währendem der aktuelle Erkenntnisstand noch keine übergreifenden und unumstösslichen Gesetzmässigkeiten zum Vorschein gebracht hat», sagt Knecht.
Dennoch: Bereits jetzt zeichnen sich Fragestellungen und Hypothesen ab, inwiefern das Coronavirus Einfluss auf unsere psychische Verfassung hat. Den Psychiater interessieren derzeit zwei Fragen, sagt Knecht.
Zum einen geht es darum, zu erforschen, ob das Virus direkten Schaden im Gehirn anrichten kann, wie es bei der Spanischen Grippe der Fall war – sei es auf das erwachsene Gehirn oder auf das sich entwickelnde Gehirn des Fetus im Mutterleib.
Dass das Coronavirus eine Hirnschädigung auslösen kann, liegt nicht fern. «Mögliche Schädigungsmechanismen sind einerseits die Gefässentzündungen, welche prinzipiell überall im Körper stattfinden können», sagt Knecht.
Dann aber auch der Sauerstoffmangel, welcher bei schwerer Betroffenheit der Lunge auftreten kann. «Hier wird man also den Langzeitverlauf sowohl der erkrankten Erwachsenen als auch der infizierten Neugeborenen ganz exakt beobachten müssen.»
Auf der anderen Seite stehen die psychischen Folgen der Krise im Fokus, welche das Coronavirus auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene ausgelöst hat. Die neuen Umstände führen laut Knecht zu einem Lebensstil, der nicht in allen Teilen menschengerecht ist und somit zu Anpassungsstörungen führen kann.
Solche könnten sich als Depression, Angststörung, Hypochondrie oder auch als Zwangsstörung mit krankhaftem Vermeidungsverhalten (Ansteckungsangst) äussern. Vereinzelt werde auch über eine Erhöhung von Psychosen und Essstörungen berichtet.
«Junge sind davon offenbar noch stärker betroffen als die Älteren mit ihrer Lebenserfahrung», stellt der Leitende Arzt Knecht fest. Betroffen seien nicht nur Menschen, die in dieser Hinsicht bereits auffällig waren.
Mehr parkinsonartige Krankheitsbilder durch Corona?
Dass das Coronavirus neue psychische Erkrankungen hervorruft, denkt Knecht nicht. Grund: Der Störreiz, also das Virus, sei nicht Ursache für psychische Reaktionen, sondern die eigene Persönlichkeit. Es könne aber sein, dass sich durch das Coronavirus und seine Auswirkungen ein Krankheitsbild neuartig zeigt.
Anders ist dies aber, sollten im Langzeitverlauf organische Störungsbilder auftreten, also Störungen, die auf eine organische Ursache, wie eben beispielsweise die Beschädigung des Hirns. «Bei der Spanischen Grippe zeigten sich viele schwere Zwangsstörungen und parkinsonartige Krankheitsbilder», sagt Knecht.
Mensch ist sich gewöhnt, mit Tod umzugehen
Thomas Maier, Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie St. Gallen Nord, warnt davor, vorschnell zu denken, dass alle Arten von Belastungen sofort zu psychischen Krankheiten führen. Auch er bezweifelt, dass durch das Coronavirus neue psychische Erkrankungen entstehen werden.
Die Menschen seien «im Verlauf der Evolution» schon mit vielen Belastungen und Krisen konfrontiert worden, sodass sich alle psychischen Krankheiten, die der Mensch potenziell entwickeln kann, schon früher ausgebildet haben.
«Die Menschen sind ja seit eh und je daran gewöhnt, mit Unsicherheit und Bedrohungen durch Krankheiten inklusiv dem Tod umzugehen», so Maier. Die wenigsten Menschen würden deshalb krank. Man müsse sich zudem bewusst sein, dass objektiv gesehen – trotz Coronakrise – das Leben für die meisten Menschen noch nie so sicher und angenehm war wie heute.
Es gebe zwar Menschen, die in der Krise mit Symptomverstärkung reagieren. «Einige chronisch psychisch Kranke sind hingegen in der jetzigen Zeit eher weniger belastet, weil die Bedrohung alle trifft und sie sich nicht mehr als einzige fühlen, die irgendwie leiden», sagt Maier.
Der Chefarzt sagt aber, wie zuvor sein Kollege Knecht, dass sich alle psychischen Krankheiten unterschiedlich zeigen können – das sei zeitgebunden und epochenspezifisch. «So werden Patienten mit Angststörungen oft aktuelle Themen wie zum Beispiel Umweltverschmutzung, politische Unsicherheit oder eben jetzt Corona in ihre inhaltlichen Befürchtungen aufnehmen.»
Dass ein Virus eine besondere Belastung insbesondere fürs Gesundheitspersonal darstellt, sei jetzt schon in ersten Untersuchungen festgestellt worden. «Diese haben seit der Coronakrise durchschnittlich höhere Werte für Angst und Depressivität angegeben», sagt Maier.
Fest steht auch, dass sich je nach Schweregrad des Coronakrankheitsverlaufs unterschiedliche psychische Folgen ergeben können. Besonders stark betroffen können Menschen sein, die einschneidende Erlebnisse durch das Virus machen mussten – etwa Todesangst, Ohnmachtsgefühl und starke Atemnot. Dies kann eine posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, auslösen.
«Es gehört zu den möglichen Nebenwirkungen der modernen Hightech-Medizin, dass Menschen zwar schwere medizinische Erkrankungen überleben, danach aber an einer PTBS leiden», sagt Maier. Dies sei allerdings nicht neu oder spezifisch bei Corona, sondern war schon vorher ein Problem der modernen Intensivmedizin. «Was bei Corona einfach im Vordergrund steht, ist diese Lungenentzündung mit ausgeprägter Atemnot und das ist subjektiv ein sehr beklemmendes Gefühl.»