Hunger trifft afghanische Frauen hart «Gib deinen Kindern Gift, aber verlasse nicht dein Haus»

tafi

19.12.2023

«An jeder Ecke stehen bewaffnete Taliban-Kämpfer»

«An jeder Ecke stehen bewaffnete Taliban-Kämpfer»

Seit über einem halben Jahr leben die Menschen in Afghanistan wieder unter Taliban-Regime. Die Journalistin Natalie Amiri hat das Land bereist und berichtet von der Situation der Frauen – und erschreckender Armut.

24.02.2022

Die Hungerkrise in Afghanistan verschärft sich deutlich. Besonders Frauen und Kinder leiden. Zwei Politiker in Bern sagen trotzdem, es gebe keinen Grund für grundsätzliches Asyl. Nun muss das Parlament entscheiden.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Vor allem Frauen leiden in Afghanistan unter der Taliban-Herrschaft: Sie dürfen nicht arbeiten, viele können ihre Familien nicht ernähren.
  • Die internationale Hilfe läuft derweil wegen Geldmangel nur noch auf Sparflamme. In Afghanistan droht ein Hungerwinter.
  • Im Bundeshaus verhandelt das Parlament zwei Motionen, die es Afghaninnen erschweren sollen, Asyl in der Schweiz zu bekommen.

Die Gelder für humanitäre Hilfe in Afghanistan sind im vergangenen Jahr deutlich gekürzt worden. Selbst das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen ist nicht mehr ausreichend finanziert, um die grösste Not zu lindern. In Afghanistan bekommen deshalb zehn Millionen Menschen nicht mehr die Hilfe, die sie zum Überleben brauchen, berichtet die BBC.

Betroffen sind vor allem Frauen und Kinder. Frauen, die bis vor einem halben Jahr keine Chance auf Asyl in der Schweiz hatten. Erst seit Juli gewährt das Staatssekretariat für Migration (SEM)  Frauen aus Afghanistan in der Regel Asyl.

Nationalräte zweifeln Asylrecht für Afghaninnen an

Gestützt wird die geänderte Praxis durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das eine Beschwerde von zwei Afghaninnen gegen ihre Ausweisung gutgeheissen hat. Die Richter kommen zum Schluss, dass die beiden Frauen als Flüchtlinge anzuerkennen sind und vom SEM Asyl gewährt bekommen müssen.

Das Urteil wurde am Wochenende publik, nur wenige Tage bevor das Parlament in einer ausserordentlichen Session Motionen von Gregor Rutz (SVP/ZH) und Philippe Bauer (FDP/NE) behandelt. Beide Politiker verlangen, die Praxisänderung des SEM wieder rückgängig zu machen.

Thema im Bundeshaus

  • Die Situation der Afghaninnen wird am Dienstag und Mittwoch auch Thema im Bundeshaus: An einer ausserordentlichen Session werden Motionen von Nationalrat Gregor Rutz (SVP/ZH) und alt Ständerat Philippe Bauer (NE/FDP) behandelt, die eine Verschärfung der Asylpraxis fordern.
  • Dabei geht es um eine Praxisänderung, die das Staatssekretariat für Migration (SEM) im Juli vorgenommen hatte. Das SEM entschied damals aufgrund einer Empfehlung der Europäischen Asylagentur (EUAA), Frauen aus Afghanistan in aller Regel Asyl zu gewähren.
  • In der Zwischenzeit hiess auch das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde zweier Afghaninnen gegen ihre Ausweisung gut – die Schweiz muss ihnen Asyl gewähren. Rutz und Bauer wollen die neue SEM-Praxis wieder kippen.
  • Der Nationalrat beschäftigt sich weiter mit Eritreerinnen und Eritreern mit abgewiesenem Asylgesuch. Der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller möchte, dass die Schweiz diese Personen neu in ein Drittland ausschafft – weil Eritrea eine Rückführung oft ablehne. Müller dachte an Ruanda. Stimmt der Nationalrat zu, muss der Bundesrat ein solches Pilotprojekt aufgleisen, weil der Ständerat Müllers Motion bereits angenommen hat. (SDA/red)

In Afghanistan steht derweil ein harscher Winter bevor, der besonders diejenige bedroht, die bereits zuvor durch Dürren, Erdbeben und wirtschaftliche Not geplagt sind. Die Hilfsorganisation Save the Children fürchtet auch im kommenden Jahr eine alarmierende Mangelernährung unter afghanischen Kindern. Jedes dritte Kind in dem Land werde 2024 voraussichtlich hungern müssen.

Zwei Millionen Haushalte in Afghanistan werden von Frauen geführt. Unter der Taliban-Herrschaft haben sie keine Chance Geld zu verdienen und ihre Familien zu ernähren. Mütter verabreichen ihren Kindern, so berichtet die BBC in einer Reportage, Schlafmedizin, damit sie – quasi sediert – den Hunger nicht spüren.

Schlafmittel statt Lebensmittel

Statt Milch gibt es für Babys nur Tee ohne jeglichen Nährwert. «Es gibt Nächte», erzählt eine Betroffene, «in denen wir gar nichts zu essen hatten. Ich sage zu meinen Kindern: Wo kann ich um diese Zeit betteln gehen? Sie schlafen in einem Zustand des Hungers und wenn sie aufwachen, frage ich mich, was ich tun soll.»

Wenn ein Nachbar etwas zu essen bringt, würden sich die Kinder darum drängeln: «Sie sagen nur: ‹Gib mir, gib mir.› Ich versuche», so die sechsfache Mutter, deren Mann als Unbeteiligter in einem Gefecht zwischen Taliban und Rebellen starb, «das Essen unter ihnen aufzuteilen, um sie zu beruhigen.»

Afghanistan ist neben der Hungerkrise derzeit auch mit einer grossen Anzahl an Rückkehrern konfrontiert. Hunderttausende afghanische Flüchtlinge haben unter Druck seit November das Nachbarland Pakistan verlassen. Auch sie müssen ernährt werden, in einem Land, in dem schon jetzt zwei Drittel der Einwohner nicht wissen, woher sie ihre nächste Mahlzeit bekommen.

Spitäler sind voll mit unterernährten Kindern

Kommt hinzu, dass die medizinische Versorgung nahezu zusammengebrochen ist, nachdem sich das Internationale Rote Kreuz (IRK) weitestgehend zurückziehen musste. Nach der Machtübernahme durch die Taliban hatte das IRK in etwa 30 Spitälern die Gehälter des Personals bezahlt und war für Medikamente und Verpflegung aufgekommen. Weil dem IRK das Geld ausging, muss die Taliban-Regierung nun für alles selbst aufkommen – und hat die Löhne und Gehälter sofort halbiert.

In den überfüllten Wartesälen der Spitäler sieht man vor allem unterernährte Kinder, berichtet die BBC. Und verzweifelte Mütter: «Ich habe meinen Taliban-Bruder gefragt: ‹Wovon soll ich meine Kinder ernähren, wenn ich kein Geld verdienen darf?› Er sagte: ‹Gib ihnen Gift, aber verlasse nicht dein Haus.›»

Eine Frau mit ihrem unterernährten neun Monate alten Enkelkind im Indira Gandhi-Kinderspital in Kabul: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan an der Grenze zur Hungersnot leben, ist auf 12 Million angestiegen.
Eine Frau mit ihrem unterernährten neun Monate alten Enkelkind im Indira Gandhi-Kinderspital in Kabul: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan an der Grenze zur Hungersnot leben, ist auf 12 Million angestiegen.
AP