Mieten und Bauen als Politikum «Einsprachen werden heute oft zweckentfremdet»

Von Gil Bieler

27.9.2023

Wo gebaut wird, ist die nächste Einsprache oft nicht weit: Der Bundesrat muss jetzt prüfen, ob das jetzt etwas kosten soll.
Wo gebaut wird, ist die nächste Einsprache oft nicht weit: Der Bundesrat muss jetzt prüfen, ob das jetzt etwas kosten soll.
Bild: Keystone

Überrissene Mietzinse, schikanöse Einsprachen gegen Bauprojekte, Kündigungen zugunsten von Asylsuchenden: Im Nationalrat kamen viele Miet- und Wohnfragen zur Sprache. Ein Mietrecht-Experte ordnet ein.

Von Gil Bieler

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Auf Antrag der SP-Fraktion hat sich am Mittwoch der Nationalrat mit dem Themenbereich Miete und Wohnen befasst.
  • Weder regelmässige Kontrollen der Mietzinse noch ein befristetes Moratorium für Mietzinserhöhungen fanden eine Mehrheit.
  • Der Bundesrat muss einzig prüfen, ob die Bautätigkeit durch eine Verteuerung von Einsprachen gefördert werden kann. Diesem Vorstoss von Mitte-Nationalrat Leo Müller stimmte der Rat zu.
  • Für blue News macht Urban Hulliger, Anwalt mit Fachgebiet Mietrecht und Dozent für soziales Mietrecht, einen Faktencheck zu den wichtigsten Punkten der Debatte. 

SP, Grüne, SVP, Mitte: Aus fast allen Lagern wurden am Mittwoch im Nationalrat Forderungen gestellt, was sich im Miet- und Baurecht ändern müsse. Die SP nahm die Mietzinse ins Visier, die SVP den Fall der Aargauer Gemeinde Windisch, wo Mieter*innen dreier Liegenschaften gekündigt worden war, um Platz für eine Asylunterkunft zu schaffen.

Doch die Lager blieben unversöhnlich: Am Ende konnte sich einzig ein Vorstoss von Mitte-Nationalrat Leo Müller durchsetzen.

In Mietfragen stehen sich Mieter*innen und Vermieter*innen meist unversöhnlich gegenüber. Das räumt auch Rechtsanwalt Urban Hulliger ein. Er ist Leiter der Fachgruppe Mietrecht des Zürcher Anwaltverbands und Dozent für soziales Mietrecht an der Universität Zürich – und steht damit so gut es geht in beiden Lagern. Für blue News macht er einen juristischen Faktencheck zu den wichtigsten Punkten der Ratsdebatte.

Mitte-Vorstoss: Einsprachen gegen Bauprojekte verteuern 

Der Luzerner Mitte-Nationalrat Leo Müller kritisiert in seinem Postulat, dass jemand durch Einsprachen quasi gratis ein unliebsames Bauprojekt lahmlegen könne. «Die Einsprachemöglichkeit wird oft als Mittel genutzt, um rechtskonforme, aber unliebsame Bauprojekte ohne Kostenrisiko möglichst lange zu verzögern», hält Müller fest. «Damit werden Einsprachen ihres Sinnes entleert.»

Der Rat stimmte dem Postulat oppositionslos zu. Der Bundesrat muss jetzt prüfen, ob es eine gesetzliche Grundlage für ein «massvolles Kostenrisiko» bei Einsprachen braucht, um unnötige Einsprachen zu verhindern.

Mitte-Nationalrat Leo Müller moniert, es könne nicht «Sinn» einer Einsprache sein, ein unliebsames Bauprojekt nur hinauszuzögern. Einverstanden, Herr Hulliger?

Urban Hulliger: Der Sinn einer Einsprache sollte sein, abklären zu lassen, ob die rechtlichen Vorschriften eingehalten werden – Lärmschutz, Grenzabstand etc. Ich gebe Leo Müller recht, dass diese Einsprachemöglichkeit heute oft etwas zweckentfremdet wird, um dadurch zum Beispiel noch etwas Geld herauszuschlagen.

Zugleich gibt es aber den Anspruch auf rechtliches Gehör. Lässt sich das mit einer Gebühr für Einsprachen vereinbaren?

Hulliger: Wenn man eine Einsprache weiterzieht, ist die natürlich nicht mehr gratis. Aber zumindest im Kanton Zürich bewegen sich die Kosten auf erster Instanz, dem Baurekursgericht, im überschaubaren Rahmen. Meines Erachtens ist auch gar nicht die Frage, ob eine Einsprache etwas kostet oder nicht. Vielmehr wie rasch diese behandelt werden. Man müsste also sicherlich bei der Geschwindigkeit der Verfahren ansetzen, um die Bautätigkeit zu beschleunigen, wie das Leo Müller sagt.

Leo Müller (Mitte/LU) stört sich an «Gratis-Verzögerungen» von Bauprojekten.
Leo Müller (Mitte/LU) stört sich an «Gratis-Verzögerungen» von Bauprojekten.
Keystone

SVP-Vorstoss: Kündigungen zugunsten von Asylsuchenden verbieten

Die Aargauer SVP-Nationalrätin Martina Bircher forderte im Nationalrat derweil Massnahmen, «dass Wohnungskündigungen nicht rechtens sind, wenn diese Kündigung lediglich dazu dient, Asylsuchende respektive vorläufig aufgenommene Personen unterzubringen». Der Nationalrat versenkte die Motion klar mit 136 zu 53 Stimmen.

Der Bundesrat hielt dazu fest, dass bei einer Kündigung oft nicht feststehe, in welcher Art und Weise die Wohnung anschliessend genutzt oder an wen sie vermietet werden solle. «Die geforderte Regelung würde zu schwierigen Abgrenzungsfragen und Rechtsunsicherheit führen.»

Stimmen Sie diesen Bedenken zu, Urban Hulliger?

Hulliger: Das sieht aus wie der berühmte Sturm im Wasserglas: Es gab wenige solcher Fälle, die dann Schlagzeilen gemacht haben. Und es ist auch kein Problem: Wenn eine Wohnungskündigung ausgesprochen wird, kann die Mieterseite diese anfechten und es wird im Einzelfall geschaut, ob sie gültig ist oder nicht. Hier ist es sicherlich von Bedeutung, ob eine Gemeinde all ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hat, Asylsuchende unterzubringen. Dann ist eine solche Kündigung meiner Ansicht nach gültig. Und generell gilt Kündigungsfreiheit, woran sich bei anderen Gelegenheiten ja mieterfreundliche Kreise stören.

Und wie steht es mit der «Rechtsunsicherheit», die der Bundesrat befürchtet?

Hulliger: Das Problem der Rechtsunsicherheit sehe ich auch. Denn bei der Frage, ob eine Kündigung missbräuchlich ist, gibt es nur eine Richtlinie im Gesetz: dass dies im Einzelfall geprüft werden muss.

Martina Bircher (SVP/AG) wollte Kündigungen zugunsten von Asylsuchenden verbieten.
Martina Bircher (SVP/AG) wollte Kündigungen zugunsten von Asylsuchenden verbieten.
Keystone

SP-Vorstoss: Systematische Mietzinskontrollen

Die SP-Fraktion ihrerseits forderte in einer Motion, dass Kantone und Gemeinden kontrollieren können, ob Mietzinse den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Will heissen: dass keine missbräuchlichen, überteuerten Mietzinse kassiert werden. In ihrem Vorstoss zitiert die SP-Fraktion eine Studie, der zufolge die Mietpreise 2021 um 10,4 Milliarden Franken zu hoch berechnet worden seien.

SP-Nationalrätin Jacqueline Badran sagte im Rat, die Mieten seien seit 2008 beständig angestiegen, obwohl sie hätten sinken müssen – wie die Hypothekarzinsen, an die die Mieten gekoppelt sind.

Der Nationalrat sprach sich dennoch mit 111 zu 75 Stimmen bei 3 Enthaltungen gegen solche Mietzinskontrollen aus.

Fehlt den Kantonen und Gemeinden denn die Möglichkeit, diese Mietzinskontrollen durchzusetzen?

Hulliger: Das haben Gemeinden und Kantone tatsächlich nicht, aber das ist im geltenden Mietrecht so auch nicht vorgesehen. Nach geltendem Recht sind die Gerichte jene Instanz, die überprüft, ob ein Mietzins missbräuchlich ist oder nicht. Meines Erachtens ist das eine sinnvolle Regelung, da es ein Vollzugsproblem gäbe, müsste jede noch so kleine Gemeinde, zum Beispiel im Oberwallis, diese Kontrollen durchführen.

Jacqueline Badran (SP/ZH) wartet darauf, das Wort ergreifen zu können.
Jacqueline Badran (SP/ZH) wartet darauf, das Wort ergreifen zu können.
Keystone

SP-Vorstoss: Moratorium auf Mietzinserhöhungen

In einer zweiten Motion forderte die SP ein befristetes Moratorium für Mietzinserhöhungen. Will heissen: Vermieter*innen sollten die Mieten nicht mehr erhöhen dürfen, ausser sie können beweisen, dass kein missbräuchlicher Profit erzielt wird. Diese Regelung sollte gelten, «bis eine automatische Kontrolle des maximal zulässigen Ertrags umgesetzt ist». Diese Motion versenkte der Nationalrat mit 122 zu 68 Stimmen.

Die SP wollte die Beweislast umdrehen: Neu sollte der Vermieter beweisen müssen, dass ein Mietzins angemessen ist. Was sagen Sie dazu?

Hulliger: Das widerspricht einem fundamentalen Rechtsgrundsatz, nämlich Art. 8 des ZGB: Dort ist festgelegt, dass wer aus einer Tatsache ein Recht ableiten will, der muss diese Tatsache belegen. Das gilt nicht nur im Mietrecht, sondern allgemein. Darum muss die Mieterseite auch belegen, dass ein Mietzins missbräuchlich ist, und nicht der Vermieter.

Balthasar Glättli (Grüne/ZH) forderte die Förderung von günstigen Wohnungen.
Balthasar Glättli (Grüne/ZH) forderte die Förderung von günstigen Wohnungen.
Keystone

Grünen-Vorstoss: Günstige Wohnungen besser fördern

Grünen-Chef Glättli wiederum fordert in einer Motion, «die Massnahmen zugunsten preisgünstiger Wohnungen gemäss Wohnraumförderungsgesetz umzusetzen».

Laut Glättli sieht das 2003 totalrevidierte Wohnraumförderungsgesetz bereits vor, preisgünstigen Wohnungsbau zu fördern. Der Bundesrat argumentiert, er wolle erst einen Aktionsplan abwarten, der nach dem runden Tisch vom Mai erstellt werde, und keine einseitigen Massnahmen ergreifen.

Wer hier im Recht ist, dazu wollte Mietrecht-Fachmann Urban Hulliger keine Stellung nehmen. Das sei eine politische Debatte.

Im Nationalrat waren die Meinungen dazu gemacht: Eine Mehrheit stimmte mit 103 zu 85 Stimmen bei einer Enthaltung dagegen.

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