Psychologie «Durch all die Empfehlungen können sich Leute auch verunsichert fühlen»

Von Gil Bieler

10.3.2020

Die Medien kennen nur noch ein Thema: das Coronavirus. Wie soll man als Leser oder Hörer damit umgehen? Und wieso lassen uns Todesfälle im Verkehr vergleichsweise kalt? Medienpsychologe Daniel Süss weiss es.

Herr Süss, das Coronavirus läuft auf allen Kanälen: Was macht ein solches Bombardement mit den Medienkonsumenten?

Die Medien haben eine «Späherfunktion» für die Gesellschaft, wie die pfeifenden Erdmännchen oder Murmeltiere. Die Mediennutzer erwarten aktuelle und relevante Informationen mit einer Orientierungsfunktion. Wenn ein Thema auf allen Kanälen ganz zuvorderst steht, dann entsteht bei den Nutzern ein Gefühl von Dringlichkeit. Man will nichts verpassen und nutzt daher die Informationsmedien intensiver als in einer normalen Lage. Wäre jetzt Information nur spärlich verfügbar, dann würden sich Gerüchte via soziale Medien rasch verbreiten, und Menschen würden irrationale Entscheidungen treffen, um sich zu schützen.

Wie erklärt sich dieses enorme Interesse?

Die Bedrohung durch ein Virus ist nicht mit den Sinnen unmittelbar wahrnehmbar und kann daher in besonderem Masse Verunsicherung auslösen. Hinzu kommt, dass sich die Symptome für den Laien nicht leicht von einer einfachen Erkältung oder saisonalen Grippe unterscheiden lassen. In manchen Regionen wurden drastische Massnahmen beschlossen wie die Abriegelung von Städten in China oder die Schliessung aller Schulen und Hochschulen in Italien. Das löst Befürchtungen aus, dass auch bei uns in der Schweiz drastische Massnahmen folgen könnten, die den Alltag vieler Menschen unmittelbar betreffen würden.

Zur Person
Bild: J. Flury

Daniel Süss ist Professor für Medienpsychologie an der ZHAW und Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Zürich.

Aber im Strassenverkehr zum Beispiel sterben deutlich mehr Menschen als durch das Virus. Wieso schlägt dieses Thema nicht so hohe Wellen?

An die Risiken im Strassenverkehr haben wir uns gewöhnt und wir nehmen sie in Kauf, weil die Mobilität so viele Vorzüge mit sich bringt. Auch wiegen sich die meisten Verkehrsteilnehmer in Sicherheit, weil sie denken, dass ihre eigenen Fahrkünste hoch sind. Da überschätzen die meisten Menschen auch ihr Potenzial, riskante Situationen richtig einzuschätzen. Wir haben den Weg zur Arbeit schon unzählige Male sicher zurückgelegt, also gehen wir davon aus, dass wir auch weiterhin von Unfällen verschont bleiben. Diese Sicherheit haben wir in Bezug auf das neue Virus nicht.



Überrascht es Sie, wie sehr das Thema derzeit die Medienlandschaft dominiert?

Wenn man mit der Nachrichtenwerttheorie – der Frage, was ein Ereignis nachrichtenwürdig macht –, argumentiert, dann ist es völlig plausibel, dass das Coronavirus, seine Ausbreitung und die Schutzmöglichkeiten nun einen hohen Nachrichtenwert haben. Dies, weil potenziell alle Menschen weltweit betroffen sind und die zentralen politischen und wirtschaftlichen Akteure handeln müssen. Zudem verläuft die Entwicklung so rasch, dass täglich eine neue Lagebeurteilung nötig ist und neue Massnahmen erwogen werden. Da geraten andere Themen leicht aus dem Fokus der Aufmerksamkeit.

Welche Rolle spielt dabei die Entwicklung hin zu einem 24/7-Newsangebot?

Grundsätzlich ist das eine sehr hilfreiche Ausgangslage, um möglichst viele Menschen rasch zu erreichen und die nötigen Schutzmassnahmen zu kommunizieren. Wenn nun politische Instanzen, Arbeitgeber usw. täglich neue Empfehlungen und Anweisungen verbreiten, dann hat das allerdings zwei Seiten: Die Menschen haben zwar einerseits das Vertrauen, dass man sich um ihre Sicherheit kümmert, und sie wissen, dass sie rasch mit aktuellen Informationen versorgt werden. Sie können sich aber andererseits auch überfordert fühlen und dann einzelne Anweisungen nicht mehr ernst nehmen, weil sie denken, dass morgen vielleicht schon nicht mehr gilt, was heute kommuniziert wurde.

Was ist noch ein «gesundes» Interesse an dem Thema – und wann wird es problematisch?

Dass man in einer solch aussergewöhnlichen Situation die Nachrichten genauer verfolgt, ist – wie gesagt – völlig normal. Ein Alarmzeichen wäre es, wenn ich mich nicht mehr auf meine gewöhnlichen Aufgaben oder die Arbeit konzentrieren und mich in der Freizeit nicht mehr erholen kann, weil ich mich immer mit dem Coronavirus beschäftige.

Wie kann man das vermeiden?

Indem man sich eine bewusste Mediennutzung zurechtlegt. Zum Beispiel: Morgens höre ich diese Radionachrichten und lese diese Zeitung, abends schaue ich noch die «Tagesschau». Das bringt eine gewisse Struktur und verhindert, dass man permanent die laufende Entwicklung verfolgt.

Trotz Dauerberichterstattung: Vieles zum Virus ist noch unklar, es gibt zahlreiche Gerüchte. Wie kann man unterscheiden, was Fake und was Fakt ist?

Grundsätzlich muss man sich fragen, wie glaubwürdig eine Quelle ist. Sich an die offiziellen Organe zu halten, ist eine gute Strategie. Und bei den Schweizerinnen und Schweizern ist das Vertrauen in die Behörden auch relativ hoch. Die meisten halten offizielle Quellen – wie etwa Behörden – für vertrauenswürdiger als etwas, das eine Einzelperson auf den sozialen Medien postet. Das zeigen Studien des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft (FÖG) der ETH Zürich. Wenn man einmal etwas liest, das der übrigen Berichterstattung widerspricht, sollte man versuchen, diese Informationen auf anderen Kanälen und Portalen zu überprüfen.

Andere Themen von ähnlicher Relevanz, etwa die Flüchtlingskrise im türkisch-griechischen Grenzgebiet, gehen völlig unter. Bleibt dafür schlicht kein Platz?

In Griechenland und der Türkei zum Beispiel werden die Berichte zur Flüchtlingskrise im Moment sicher genauso aufmerksam gelesen wie diejenigen zum Coronavirus. Sobald uns ein Ereignis persönlich betrifft, weil es in der unmittelbaren Nähe stattfindet und wir Menschen kennen, die betroffen sind, erhöht sich die subjektive Relevanz. Je näher ein Ereignis rückt und je mehr Menschen und bedeutsame Institutionen betroffen sind, desto eher werden Berichte aufmerksam verfolgt. Dies gilt auch dann, wenn man die Auswirkungen im eigenen Alltag unmittelbar zu spüren bekommt.

Wann setzt bei solch einem Hype die Sättigung ein?

Wenn sich über einige Tage die Lage nicht weiter verschärft oder sich gar beruhigt, dann wendet man sich wieder anderen Themen zu. Das scheint bei der Verbreitung des Coronavirus allerdings noch nicht in Sicht zu sein. Das tägliche Zählen der Neuinfektionen und der Todesfälle wird vielleicht zuerst mal in den Hintergrund rücken. Es ist zu hoffen, dass bald wirksame Medikamente verfügbar werden und dass dann nicht nur die spontanen Heilungen, sondern auch Therapieerfolge berichtet werden können. Das würde dann auch dazu führen, dass sich die Menschen wieder sicherer fühlen und deshalb das Interesse wieder abnimmt.



Wie sollten Medien über das Virus berichten, ohne Alarmismus zu betreiben?

Eine sachliche Information, die nicht nach Skandalisierungen sucht – wie etwa eine vorschnelle Kritik am Krisenmanagement der Behörden –, ist sicher angezeigt. Ob alles optimal gelaufen ist, kann man dann aufarbeiten, wenn die Krise überwunden ist. Zudem ist es wichtig, jetzt keine Spekulationen und Gerüchte weiterzutragen. Sorgfältige Recherchen für qualitativ hochwertigen Journalismus sind immer wichtig – in einer besonderen Lage aber umso mehr. Hintergrundberichte über die Verbreitung von Viren, die Entwicklung von Impfstoffen, geeignete Schutzmassnahmen usw. vermitteln den Mediennutzern Orientierungshilfen.

Daniel Süss hat einige Fragen schriftlich beantwortet.

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