Reform der Altersvorsorge Der Kampf um die erste und zweite Säule ist eröffnet

Von Lia Pescatore und Alex Rudolf

7.12.2021

Entsolidarisierung oder Ausgleich der Ungleichheit zwischen Jung und Alt? Im Parlament sind sich die politischen Lager über die Ausgestaltung der Sozialwerk-Reformen noch nicht einig. 
Entsolidarisierung oder Ausgleich der Ungleichheit zwischen Jung und Alt? Im Parlament sind sich die politischen Lager über die Ausgestaltung der Sozialwerk-Reformen noch nicht einig. 
Bild: KEYSTONE

In der Wintersession diskutiert das Parlament neben der AHV- zum ersten Mal auch die BVG-Reform. Zwar ist die Verhandlung um die erste Säule bereits fortgeschritten, Gräben tun sich aber in beiden Debatten auf. 

Von Lia Pescatore und Alex Rudolf

Was bisher geschah

Die Sanierung der Sozialwerke ist eines der Themen, das in Bundesbern in den ersten zwei Jahren der Legislatur die Gemüter am meisten erhitzt hat. In dieser Session werden zwei wichtige Geschäfte abschliessend beraten: Einerseits die AHV21-Reform, wonach das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 Jahre angehoben werden soll, und andererseits die Anpassung der Mehrwertsteuer. Diese soll zugunsten der AHV um 0,4 Prozent angehoben werden. Das Stimmvolk kann voraussichtlich im Herbst 2022 über die Vorlage befinden. Es wird ein hitziger Abstimmungskampf erwartet.

Auch die berufliche Vorsorge, die zweite Säule, steht unter Druck. Der Bundesrat beantragt dem Parlament eine Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent, die mit monatlichen Rentenzuschlägen ausgeglichen werden sollen.

Kommt endlich die mehrheitsfähige Lösung für die AHV?

Das ist fraglich. Erfahrungsgemäss haben es AHV-Revisionen an der Urne schwer. Zuletzt scheiterten zwei Vorlagen im Herbst 2017 relativ knapp. Einerseits war vorgesehen, den Mindestumwandlungssatz zu senken, um eine Stabilisierung herbeizuführen. Auch hätte das Rentenalter für Frauen schrittweise von 64 auf 65 Jahre erhöht sowie ein flexibles Rentenalter zwischen 62 und 70 Jahren geschaffen werden sollen.

Was ist das Problem?

Die AHV ist die wichtigste Grundrente der Schweiz und muss dringend saniert werden, da immer mehr Menschen gleichzeitig das Rentenalter erreichen. In den kommenden 25 Jahren fehlen rund 200 Milliarden Franken. Wie diese Sanierung aber geschehen soll, ist seit Jahren eine politische Knacknuss.

Während die Bürgerlichen das Rentenalter für Frauen erhöhen wollen, ist dies für Linke und Gewerkschaften ein Tabu. Ihr Argument: Frauen verdienen über das gesamte Leben hinweg noch immer weniger als Männer. Zudem reiche die AHV-Rente schon heute für viele nicht mehr zur Sicherung der Existenz.

«Die einzige Lösung, die es für die Finanzierungsproblematik der AHV gibt, ist die Erhöhung des Rentenalters.»

Andri Silberschmidt

Nationalrat (FDP/ZH)

Zwei Initiativen in der Pipeline

Die Renteninitiative der Jungfreisinnigen, wonach das Rentenalter bis 2032 auf 66 Jahre für beide Geschlechter angehoben werden, sowie das Rentenalter langfristig an die Lebenserwartung gekoppelt werden soll, ist umstritten. FDP-Vizepräsident und Nationalrat Andri Silberschmidt sieht darin hingegen die einzige Lösung für die Finanzierungsproblematik der AHV.

Als Alternative sieht der ehemalige Präsident der Jungfreisinnigen allein eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 12 Prozent. Das hätte aber eine Verteuerung aller Güter zur Folge, «und die Menschen hätten am Ende des Monats weniger Geld in der eigenen Tasche».

Ende November sprach sich der Bundesrat gegen das Ansinnen aus. Er stellt der Initiative auch keinen Gegenvorschlag gegenüber – obwohl die vier bürgerlichen Regierungsmitglieder Parmelin, Maurer, Keller-Sutter und Cassis viel Sympathien für das Anliegen haben. In Bern wird spekuliert, dass der Bundesrat die Vorlage aus taktischen Gründen nicht unterstützt, da das Volk erst über die Erhöhung des Frauen-Rentenalters von 64 auf 65 Jahre entscheiden soll.

Auch die Initiative für eine 13. AHV-Rente wird vom Bundesrat abgelehnt. Dass Bezüger*innen analog zum 13. Monatslohn eine zusätzliche Zahlung entrichtet würde, sei mit der «finanziellen Lage der AHV nicht kompatibel», schreibt der Bundesrat in einer Mitteilung. Höchstwahrscheinlich kommen beide Initiativen zeitgleich vors Volk.

Und wie steht es um die Reform der zweiten Säule?

Ab Dienstag wird die BVG-Reform zum ersten Mal im Parlament behandelt, und zwar im Nationalrat. Die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 Prozent auf 6 Prozent scheint unbestritten. Denn die meisten Vorsorgeversicherungen, die grössere Teile des Lohnes versichern als das gesetzliche vorgeschriebene Minimum, haben bereits eine Senkung vorgenommen oder planen, diese in nächster Zeit vorzunehmen. Nur rund ein Sechstel der Versicherten verfügen nur über das obligatorische Alterskapital oder wenig mehr.

Wo liegt denn das Diskussionspotenzial?

Sinkt der Umwandlungssatz, sinken auch die Renten. Wie bei der AHV sollen Entschädigungen die Auswirkung der Reform abfedern. Doch wer wie lange und wie genau von diesen Entschädigungen profitieren soll, darüber müssen sich die Parteien erst einig werden.

Es stehen mehrere Vorschläge zur Debatte:

Der Bundesrat sieht vor, dass praktisch alle Rentner*innen der ersten 15 bis 20 Jahrgänge einen Zuschlag von bis zu 2400 Franken im Jahr erhalten sollen. Finanzieren will dies der Bundesrat mit dauerhaften Lohnabzügen von 0,5 Prozent. Der Vorschlag basiert auf einem Kompromiss mit den Sozialpartnern.

«Wir müssen einen Ausbau der zweiten Säule, der die Generationen-Umverteilung verschärft, verhindern.»

Thomas de Courten 

Nationalrat (SVP/BL)

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit der grossen Kammer bemängelt jedoch an diesem Vorschlag, dass der Zuschlag somit auch der Mehrheit der Personen zugutekommen würde, die durch die Reform gar nicht benachteiligt würden. Die Kommission hat darum zwei Modelle eingebracht. 

Der Mehrheitsvorschlag sieht deswegen vor, dass nur diejenigen, die von Einbussen durch die Senkung des Umwandlungssatzes betroffen wären, entschädigt würden. «Wir müssen einen Ausbau der zweiten Säule, der die Generationen-Umverteilung verschärft, verhindern», sagt Thomas de Courten (SVP/BL). Ziel sei es, die Renten zu sichern, aber auch Teilzeitarbeitende und Geringverdienende besser zu stellen, so auch viele Frauen. 30 bis 40 Prozent würden laut Bundesschätzung davon profitieren.

Den zweiten Vorschlag hat Melanie Mettler (GLP/BE) eingebracht: Auch sie will den Bundesratsvorschlag einschränken. «Es braucht keine Giesskanne», sagt sie, dafür eine dynamische Begrenzung der Zuschläge – «je weiter entfernt die Pensionierung noch ist, desto weniger Zuschlag gibt es» – sowie auch eine zeitliche Begrenzung der Finanzierungsmechanismen. Das Geld solle nicht unbefristet in einen Topf fliessen, wie es der Bundesrat vorsieht.

Sie setzt die Begrenzung der Begünstigten beim Alterskapital an: Wer mehr als 515'000 Franken hat, der bekommt keinen Zuschlag. «30 Prozent der Reichsten müssen auf eine Kompensation verzichten», sagt Mettler. So soll gesichert werden, dass die Menschen, die erst in 20 Jahren pensioniert werden, auch noch etwas bekommen.

Enttäuscht von den Vorschlägen ihrer Kommission ist hingegen VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber (Grüne/ZH). Die Senkung des Umwandlungssatzes habe tiefere Renten für alle zur Folge, nicht nur für die Übergangsgenerationen, «das ist gegen die Jungen». Die Vorlagen aus der Kommission würden dies unterschlagen, indem sie die Umlagen, die der Bundesratsvorschlag vorsieht, fallen liessen.

Auch Ruth Humbel (Mitte/AG) sagt, dass man nicht nur auf die Übergangsgeneration schauen dürfe, das Geld soll so investiert werden, dass auch Teilzeitarbeitende und Menschen mit geringem Einkommen nachhaltig profitieren würden.

««Wir dürfen nicht nur auf die Übergangsgeneration schauen.»

Ruth Humbel, CVP-AG, spricht zur Grossen Kammer, an der Fruehlingssession der Eidgenoessischen Raete, am Mittwoch, 3. Maerz 2021 im Nationalrat Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Ruth Humbel

Nationalrätin (Mitte/AG)

Dies werde jedoch im Vorschlag der Kommission aufgenommen – mit der Halbierung der Koordinationsabzüge, aber auch mit der Senkung der Eintrittsschwellen. Wer mehr als 12'500 Franken verdient, soll neu obligatorisch versichert sein. «Wir wollen zudem eine Verpflichtung, dass mehrere Teilzeitstellen zusammengezählt werden können», sagt Humbel. So könne eine gute Basis für die zweite Säule geschaffen werden.

Kein Sprint, sondern ein Marathon

Nach der Reform ist vor der Reform. Vom National- und Ständerat hat der Bundesrat bereits den Auftrag erhalten, die nächste Revision anzupacken. Bis 2026 muss er einen Plan zur Stabilisierung der AHV für die Periode 2030 bis 2040 vorlegen. Fraglich ist auch, wie lange eine allfällige Revision der zweiten Säule für ausgeglichene Finanzen sorgt. Für Nationalrätin und VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber (Grüne/ZH) ist klar: «Beide Vorlagen bieten keine langfristigen Lösungen: Die Finanzlöcher und die schlechten Renten bleiben.»

Für Prelicz-Huber ist mit der angestrebten Erhöhung des Frauen-Rentenalters eine rote Linie übertreten worden. Für sie steht praktisch fest, dass die AHV-Reform wie auch die Sanierung der zweiten Säule einer Urnen-Abstimmung nicht standhalten werden. «Ich denke, wir werden zwei neue Vorlagen ausarbeiten müssen.»

«Es ist eine Entsolidarisierung im Gange.»

Katharina Prelicz-Huber, Nationalraetin GP-ZH, portraitiert am 10. Dezember 2019 in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Katharina Prelicz-Huber

Nationalrätin (Grüne/ZH)

Es sei eine «Entsolidarisierung» im Gange. Anstatt die erste Säule, «die fairste Lösung» zu sichern, würde man die Jungen in Richtung dritte Säule lenken.

Melanie Mettler sieht ein Problem in der Verhandlungs-Reihenfolge der beiden Reformen. «Wir sind verkehrt unterwegs», sie hätte lieber zuerst die zweite Säule behandelt: «Hier liegt der Kern der unfairen Situation, zwischen den Generationen und den Geschlechtern», sagt sie.

Sie befürchtet, dass der BVG-Reform nach einer möglichen Annahme der AHV-Reform wenig Beachtung geschenkt würde. «Der Verhandlungsdruck nimmt ab.» Darum habe die GLP einen Rückweisungsantrag gestellt: «Wir wollen, dass der Zeitpunkt des Inkrafttretens der beiden Gesetze gekoppelt wird.» Dadurch würde das Parlament verpflichtet, für beide Reformen mehrheitsfähige Entwürfe vorlegen zu müssen.

«In der zweiten Säule liegt der Kern der unfairen Situation, zwischen den Generationen und den Geschlechtern.»

Melanie Mettler, Nationalraetin GLP-BE, portraitiert am 9. Dezember 2019 in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Melanie Mettler

Nationalrat (GLP/BE)

Thomas de Courten ist hingegen zuversichtlich, dass beide Reformen eine Mehrheit an der Urne finden werden. Beide Vorlagen seien zwar nicht einfach zu gewinnen, aber «wir haben eine breite Allianz unter den Bürgerlichen geschmiedet», sagt de Courten.

Doch der Zeithorizont sei klar begrenzt. Wegen der Auswirkungen der hohen Lebenserwartung und der niedrigen Zinsen auf den Finanzmärkten auf die beiden Sozialversicherungs-Systeme werde ein zweiter Schritt nötig sein: «Bis 2030 müssen wir auch politisch unsere Hausaufgaben machen.»

Für Andri Silberschmidt ist es normal, dass im Parlament kurzfristige Grabenkämpfe ausgefochten würden. Es sei aber am Bundesrat, eine langfristige Strategie zu verfolgen. «Es ist bedenklich, dass der Bundesrat die Situation kleinredet», handle es sich doch bei der Altersvorsorge um eine der grössten Sorgen der Schweizer Bevölkerung.

Er wünscht sich vom Bundesrat Taten statt Worte: «Auf Probleme wie Klima, Europapolitik und Corona haben wir zwar Einfluss, aber nicht alleinig.» Die Finanzierung der Sozialwerke könne die Schweiz hingegen von A bis Z selbst lösen.