Armutsfalle Kinder?«Es macht sich eine gewisse Wut breit»
Von Alex Rudolf
14.6.2022
Kinder sind eine Armutsfalle. Mit dieser plakativen Aussage tritt die SP-Nationalrätin Tamara Funiciello eine Diskussion los. Ist das Kinderkriegen zu riskant? Mütter erzählen.
Von Alex Rudolf
14.06.2022, 00:00
14.06.2022, 10:07
Alex Rudolf
Wird eine Frau Mutter, werden zahlreiche Ereignisse losgetreten, die die SP-Nationalrätin Tamara Funiciello als «Armutsfalle» bezeichnet, sie rät jungen Frauen: «Vielleicht solltet ihr es einfach sein lassen.»
Trotz der Frauenstreiks 1991 und 2019 ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau noch nicht so, wie sie sich Funiciello gewünscht hatte: «Frauen müssen Mütter sein, als wären sie nicht erwerbstätig, und erwerbstätig sein, als wären sie keine Mütter», sagt sie zu blue News.
Was ist das Risiko, von dem Funiciello spricht? Neben Beitragslücken in der zweiten und allenfalls dritten Säule, wenn sie nach der Geburt beruflich kürzertreten, fallen noch weitere Ungleichheiten ins Gewicht. «Frauen leisten unbezahlte Care-Arbeit in einem Wert von 248 Milliarden Franken – pro Jahr.»
Das passiert heute zum Frauenstreik:
Es gibt schweizweite Aktionen und Demonstrationen unter dem Motto: «Wir bezahlen eure Reform nicht! Nein zur AHV 21!».
12 Uhr: Feministische Mittagspause mit Ständen, Essen, Musik und Tanz auf dem Kreuzackerplatz in Solothurn.
13.30 Uhr: Unia-Aktion in Bern gegen Erhöhung des Rentenalters.
14 Uhr: Demonstration auf dem Theaterplatz in Basel.
15.30 Uhr: Internationales Picknick auf der Mentona-Moser-Anlage in Zürich.
Ab 18 Uhr: Bewilligte Abschluss-Demonstrationen in verschiedenen Städten wie St. Gallen, Lausanne, Genf, Bern, Zürich.
22 Uhr: Konzert der feministischen Punk-Band Pussy Riot in der Kaserne in Basel.
Auch die Bundesrichter in Lausanne bereiten den Feministinnen Sorgen. Eine Reihe von Urteilen in Scheidungsfällen lässt den Schluss zu, dass die Richter die langjährigen Unterhaltszahlungen für geschiedene Frauen aufweichen werden.
Die Lausanner Richter stellen sich damit auf den Standpunkt, dass dies eine gleichberechtigte Lösung sei. Zu blue News sagte Nationalrätin Min Li Marti (SP/ZH): «Das ist, wie wenn man während des Spiels die Regeln ändert.» Frauen, die ein Leben lang Kinder grossgezogen haben, laufen also Gefahr, im Lebensabend wenig Geld zu haben.
Auch sollen die Frauen nach der Scheidung sofort wieder ins Berufsleben einsteigen und auch Jobs annehmen, die nicht ihrem Ausbildungsstand entsprechen. Dass in solchen Fällen der gewohnte Lebensstandard nach unten angepasst werden muss, ist sehr wahrscheinlich.
«Chancen auf Karriere tendieren gleich null»
Nein, sie bereue das Kinderkriegen nicht, sagt Selina. Sie ist 46 Jahre alt, lebt in einem Quartier in Zürichs Westen und ist Mutter von zwei Söhnen, 9 und 13 Jahre alt.
«Wenn ich mir aber überlege, wo ich beruflich stehen könnte, dann macht sich eine gewisse Wut breit», sagt sie weiter. Die freischaffende Fotografin, die vorwiegend im Kunstbereich arbeitet, hat eine typische Mutter-Berufslaufbahn hinter sich. Nach den Geburten der beiden Kinder blieb sie zu Hause und nahm nur vereinzelt Aufträge an. Seit rund sechs Jahren hat sie wieder einen festen Job und arbeitet in einem 60-Prozent-Pensum. «Die Chancen, dass ich noch Karriere mache, tendieren gleich null», sagt sie.
«Hätte es schon Tagesschulen gegeben, als meine Kinder klein waren, oder wären die Krippen günstiger gewesen, wäre ich wohl in einer anderen beruflichen Situation.»
Verzicht auf Kinder wäre nicht infrage gekommen
«Frau Funiciellos Aussagen sind einerseits dumm und zeigen andererseits, dass ihr nicht bewusst ist, was Kinder und Familie bedeuten», sagt Verena Herzog (SVP/TG). Die Nationalrätin und Familienpolitikerin betont, es gehe beim Kinderkriegen um mehr als nur Finanzielles.
Frauenstreik
Sollen Frauen aufs Kinderkriegen verzichten?
Was sagt Herzog Frauen, die glauben, auf Karriere verzichtet zu haben? «Im Leben gibt es immer Situationen, in denen man sich entscheiden muss. Kinder grosszuziehen, ist eine grosse Aufgabe, an der man das ganze Leben Freude hat. Man kann nicht alles auf einmal haben.» Sie verweist auf Altbundesrätin Micheline Calmy-Rey, die erst Kinder hatte und anschliessend in der Politik erfolgreich war. Dass keine der Frauen, die heute im Bundesrat sitzen, Kinder hat, geht dabei vergessen.
Doch wie wäre es, auf die Mutterschaft zu verzichten? «Der Kindeswunsch ist wie Tinnitus – man hört nichts anderes mehr», sagt Rachelle. Sie ist Mutter zweier Töchter, sieben und fünf Jahre alt, und ist glücklich mit ihrem Leben. Auf Kinder zu verzichten, wäre nicht infrage gekommen.
Heute arbeitet sie als freischaffende Texterin und Autorin. Vor ihren Kindern war sie Managerin in der Musikindustrie. Für den Unterhalt der Familie kommt ihr Ehemann auf. «Ich bin in einer privilegierten Lage, das ist mir bewusst.»