Ungleichgewicht Der Bund hört vor allem auf Männer – verstösst er gegen die Verfassung?

Von Jennifer Furer und Julia Käser

12.5.2020

In der Wissenschaft bestehe für Frauen nach wie vor ein grosser Aufholbedarf: je höher der akademische Grad, desto geringer der Frauenanteil, sagt Claudia Appenzeller, Generalsekretärin der Akademien der Wissenschaft Schweiz.
In der Wissenschaft bestehe für Frauen nach wie vor ein grosser Aufholbedarf: je höher der akademische Grad, desto geringer der Frauenanteil, sagt Claudia Appenzeller, Generalsekretärin der Akademien der Wissenschaft Schweiz.
Keystone

In der Corona-Task-Force und den Expertengremien des Bundesrates sitzen fast nur Männer. Dieses Ungleichgewicht beschäftigt nun die Politik. Eine Nationalrätin ist sich sicher: Der Bund verstösst damit gegen die Verfassung.

Man wolle das Potenzial der Schweizer Wissenschaftsgemeinschaft stärker nutzen und gemeinsam mit ihr den besten Ansatz zur Bewältigung der Corona-Krise finden, hiess es am 31. März in einer Mitteilung des Bundesrats. Gesagt, getan: Die «Swiss National Covid-19 Science Task Force» wurde einberufen und steht den zuständigen Stellen von Bund und Kantonen seither beratend zur Seite.

Die Task Force setzt sich aus einer Gruppe von Fachxpertinnen und -experten sowie einem Beratungsgremium zusammen und umfasst 17 Mitglieder aus unterschiedlichsten Wissenschaftszweigen. Präsidiert wird sie von Matthias Egger, Epidemiologe und Präsident des Nationalen Forschungsrats, der stets seine Rolle als Wissenschaftler betont: «Wir haben auch Massnahmen vorgeschlagen, die in der Politik nicht willkommen waren», sagte er jüngst in einem Interview.

Doch in der Politik stösst nun etwas ganz anders auf Kritik als die besagten Massnahmen. Im siebenköpfigen Beratungsgremium der Task Force, dem sogenannten «Advisory Panel», findet sich nur eine Frau. Und auch unter den zehn Vorsitzenden der Expertengruppen ist das weibliche Geschlecht mit drei Frauen untervertreten.

Das verstösst laut der Grünen-Nationalrätin Manuela Weichelt-Picard gegen den Verfassungsartikel zur Gleichstellung der Geschlechter und das CEDAW-Abkommen, der UNO-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Im Nationalrat hat sie deshalb eine Interpellation mit 36 Mitunterzeichnerinnen eingereicht.

Andere Entscheide mit mehr weiblicher Expertise?

Weichelt-Picard will vom Bundesrat wissen, warum er bei der Besetzung der Task Force und in den internen Krisen- und Beratungsstäben weder die Anforderungen der Bundesverfassung beachtet habe, noch die Weisungen des Bundesrates zur Verwirklichung der Chancengleichheit von Frau und Mann in der Bundesverwaltung.

Die erwähnte Weisung hat zum Ziel, die Chancengleichheit und die tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann am Arbeitsplatz zu verwirklichen. «Das weibliche und männliche Human- und Wissenspotenzial soll in allen Bereichen optimal gefördert, eingesetzt und genutzt werden», heisst es darin.



«Seit vielen Jahren wissen wir, dass geschlechtergemischte Gremien bessere Resultate erzielen», sagt Weichelt-Picard. Sie ist sich sicher: «Gewisse Entscheide des Bundesrates wären mit mehr Frauen in der Corona-Task-Force und auch in den verschiedenen Beratungsstäben anders ausgefallen.»

Es sei eine Tatsache, dass Frauen anders sozialisiert seien als Männer und in der Gesellschaft noch immer andere und zusätzliche Aufgaben wahrnähmen. «Um dieser Lebenswelt gerecht zu werden, müssen Frauen die Chance haben, ihre Anliegen und ihre Sichtweise einzubringen sowie Entscheidungskompetenzen haben.»

Mitglieder einer Expertengruppe, die allesamt ähnliche Lebenserfahrungen gemacht hätten, besprächen vorwiegend jene Themen und Sichtweise, die ihnen nahe liegen würden. «Andere Themen bleiben aussen vor, weil innerhalb der Gruppe niemand auf sie aufmerksam macht», sagt Weichelt-Picard.

Kritik an Kinder-Notbetreuungs-Massnahme

Die Grünen-Nationalrätin und ehemalige Zuger Regierungsrätin der Direktion des Innern ist überzeugt: Mit mehr Frauen in den Expertengremien wäre beispielsweise die Massnahme zur Notbetreuung der Kinder während der Corona-Krise anders umgesetzt worden. Nämlich so, dass nicht die Eltern – beziehungsweise mehrheitlich die Mütter – nebst dem Homeoffice noch für Kinderbetreuung und Homeschooling zuständig gewesen wären.

So habe der Bundesrat zwar festgelegt, dass die Kantone Betreuungsangebote für Kinder, die nicht privat umsorgt werden können, anbieten müssten, sagt Weichelt-Picard. Aber: «In einigen Kantonen wurde diese Massnahme derart restriktiv umgesetzt, dass viele Kinder gar nicht erst ins Betreuungsprogramm aufgenommen wurden.»

Zudem: In Zürich sei das Angebot zeitlich limitiert nur bis 16 Uhr durchgeführt worden. «Wer kann schon in einer Krise um 15 Uhr die Arbeit beenden, um die Kinder rechtzeitig abzuholen oder rechtzeitig zu Hause zu sein?», fragt sich Weichelt-Picard.

«Ein Tropfen auf den heissen Stein»

Auch bei der Aushebelung von Teilen des Arbeitsrechtes beim Spitalpersonal – so ist sich die Nationalrätin sicher – hätten mehr Frauenstimmen in den Expertengremien zu einem anderen Resultat geführt.

Der Kontext: Der Bundesrat hat die Schutzbestimmungen zu Ruhe- und Arbeitszeit für das Medizinpersonal für sechs Monate sistiert. Davon betroffen ist insbesondere das Pflegepersonal, das grossmehrheitlich aus Frauen besteht.

«Bereits vor dieser Aushebelung der Schutzbestimmung konnten Arbeitgeber das Medizinpersonal 60 Stunden pro Woche arbeiten lassen», sagt Weichelt-Picard. Schon dieses Pensum sei zu gross. Während der Pandemie müsse alles unternommen werden, damit keine Person aufgrund von Erschöpfung oder Krankheit ausfalle, hält die Politikerin fest.

Die Tatsache, dass der Bundesrat Kinderkrippen finanziell nicht unterstützen wollte, sei ebenfalls und nicht zuletzt Teil einer männlichen Experteneinschätzung und Politik. Augenscheinlich dafür ist laut Weichelt-Picard, dass der Bund dagegen die Wirtschaft mit viel Geld unterstützt habe. Alleine für die Swiss hätten 1,275 Milliarden Franken herausgeschaut.

«In diesem Fall frage ich mich schon, wieso Kinderkrippen, die vom Bundesrat zu Recht als systemrelevant betrachtet werden, keine finanzielle Unterstützung bekommen sollen», so die Zuger Politikerin. Das Parlament habe den Entscheid des Bundesrates zwar korrigiert und den Kinderkrippen 65 Millionen Franken zugesichert – für Weichelt-Picard aber nur ein Tropfen auf den heissen Stein.

«Frauen sind aufgrund der Fähigkeiten untervertreten»

Warum in den Expertengremien weniger Frauen als Männer sitzen, kann sie sich nur so erklären: «In Krisen ist die Gefahr gross, dass man in alte Strukturen zurückfällt. An kompetenten Frauen mangle es sicherlich nicht, ist sich die Politikerin sicher.

Anders sieht das ihre Ratskollegin Barbara Steinemann (SVP). «Frauen sind nicht aufgrund ihres Geschlechtes untervertreten, sondern aufgrund ihrer Fähigkeiten.» Es sei verfehlt, alles gendergerecht gestalten zu wollen. «Im Fokus soll die Sache stehen», sagt Steinemann.

Schulschliessungen, Arbeitsrecht des Medizinpersonals und Krippenförderung seien zudem keine reinen Frauenthemen. «Wenn es um Geburten oder ums Stillen gehen würde, würde ich die Geschlechterdiskussion hingegen verstehen», so die SVP-Nationalrätin.



Sie sieht demnach in der Task-Force-Auswahl des Bundes auch keinen Verstoss gegen die Verfassung. «Diese garantiert, dass beide Geschlechter die gleiche Chance, den gleichen Zugang haben», sagt Steinemann. Sie ist überzeugt: «Der Zugang zu Expertengremien steht den Frauen offen.» Würden sie nicht aufgenommen, sei dies nicht auf ihr Geschlecht zurückzuführen.

Ein Viertel der Professuren in der Schweiz ist weiblich besetzt

Ein Blick in die Statistiken zeigt: Der Forscherinnen-Anteil an Schweizer Hochschulen beträgt 39 Prozent. Dieser Wert gestaltet sich jedoch je nach Wissenschaftsbereich unterschiedlich, wie die Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BfS) weiter verraten. Während das Geschlechterverhältnis in den Bereichen Sozial- und Geisteswissenschaften sowie Medizin ausgeglichen ist, dominieren in den Naturwissenschaften die Männer.

«Vor allem im Ingenieurwesen sowie in der Technologie sind Frauen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert», weiss Claudia Appenzeller, Generalsekretärin der Akademien der Wissenschaft Schweiz. In der Wissenschaft bestehe für Frauen nach wie vor ein grosser Aufholbedarf: je höher der akademische Grad, desto geringer der Frauenanteil.

«51 Prozent der Masterabschlüsse werden mittlerweile von Frauen gemacht», sagt Appenzeller. Auf der höchsten akademischen Stufe zeige sich ein anderes Bild. So sei weniger als ein Viertel der hiesigen Professuren weiblich besetzt. Vor diesem Hintergrund bilde das Geschlechterverhältnis unter den Fachexpertinnen und -experten der Corona-Task-Force gewissermassen die Realität ab.

Doch Appenzeller ist zuversichtlich: «Das Bewusstsein über die Bedeutung von einer angemessenen Frauenvertretung in der Wissenschaft ist vorhanden, doch Gleichstellung ist eine lange Reise.» Verschiedene Universitäten etwa hätten mittlerweile Massnahmen eingeführt, um Wissenschaftlerinnen gezielt zu unterstützen – ebenso der Schweizerische Nationalfond.

Geschlechterdiskussion auch in Deutschland

Das sei entscheidend, denn: «Verschiedene Blickwinkel stossen auf bessere und innovativere Lösungen – und eben darum geht es in der Forschung. Diversität ist deshalb äusserst wichtig», erklärt Appenzeller. Hierzulande hätten Frauen auf dem Weg in die Forschung zahlreiche Hindernisse vorgefunden, insbesondere weil die Rahmenbedingungen, die ihnen den Zugang erleichterten, relativ spät eingeführt worden seien – Kitas oder Tagesschulen zum Beispiel. Nun gelte es, dranzubleiben.

Wie der Bund den Einwänden von Weichelt-Picard gegenübersteht, bleibt abzuwarten. Auf Anfrage will man sich beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) derzeit nicht zu den Auswahlkriterien äussern. «Die Antworten werden in der Beantwortung der Interpellation folgen», schreibt Sprecher Daniel Dauwalder.

In der Zwischenzeit sorgt die Besetzung eines Corona-Expertengremiums auch im benachbarten Deutschland für Diskussionen. Im 26-köpfigen Beirat der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina), die Empfehlungen zur Wiederaufnahme des gesellschaftlichen Lebens nach der Corona-Krise gemacht hat, sitzen gerade einmal zwei Frauen.

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