Kirchenrechtler über Missbrauchsfälle«Die Priester müssten eigentlich der Justiz übergeben werden»
gbi
14.9.2023
Der neue Missbrauchsskandal wirft ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Kirche und der Justiz. Dabei ist klar: Das Kirchenrecht schützt Täter nicht. Es gibt andere Gründe, warum Taten oft ungesühnt bleiben.
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14.09.2023, 07:30
14.09.2023, 07:32
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche gibt auch am Mittwoch zu reden.
Welche Rolle kommt hierbei dem Kirchenrecht zu? Für Experten ist klar: Dieses schützt die Täter nicht vor der Justiz.
Kritisiert wird dagegen vielmehr das System der Vertuschung, das in der Kirche vorherrscht.
1002 Fälle. 510 Täter. 921 Opfer, darunter sogar Säuglinge: Das Ausmass von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche seit den 1950er-Jahren, den eine umfassende Studie der Universität Zürich aufgezeigt hat, schlägt hohe Wellen.
Die Folgen am Mittwoch, dem Tag danach: Gegen den Abt von Saint-Maurice VS wurde eine Untersuchung eingeleitet. Auch der St. Galler Bischof Markus Büchel hat im Lichte der Studie eine Strafanzeige gegen einen Pfarrer eingereicht. Und das Bistum Lugano verspricht, eine unabhängige Meldestelle für sexuelle Übergriffe einzurichten.
Dabei zeigten die 1002 Fälle noch lange nicht das ganze Bild, sagen die Forscher*innen der Uni Zürich. Die Dunkelziffer dürfte gross sein. Ihre Studie basiert auf den Dokumenten der Kirche, ein grosser Teil der Fälle von sexuellem Missbrauch sei aber gar nicht gemeldet oder systematisch vertuscht worden, erklärten sie. In zwei Diözesen konnten sie sogar belegen, dass gezielt Akten vernichtet wurden.
Die Rolle des Kirchenrechts
Auch wenn die Untersuchung die weitaus grösste ihrer Art ist: Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sind kein Novum. Dabei gibt auch immer wieder das Kirchenrecht zu reden.
Das Kirchenrecht (kanonisches Recht) besteht parallel zum staatlichen Recht. Es bedeutet vereinfacht gesagt, dass die Kirche interne Handlungen auch intern regelt. Die Kirche kann eigene Ermittlungen durchführen und auch eigene Strafen gegen fehlbare Priester erlassen, etwa Geldbussen.
Aber: Das Kirchenrecht schützt Kleriker, die sexuelle Straftaten begangen haben, nicht vor dem Zugriff der Justiz. «Selbst für das Kirchenrecht ist seit Benedikt XVI. klar, dass die Priester eigentlich für die Abklärung, ob es ein Verbrechen war oder nicht, der staatlichen Justiz übergeben werden müssten», erklärt Adrian Loretan, Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern, auf Anfrage von blue News.
Doch die Geschichte zeige, dass die Justiz oft erst dann aktiv werde, wenn der mediale Druck entsprechend gross sei.
Bleiben Taten ungesühnt, liegt das nicht am Kirchenrecht
«Das Kirchenrecht ist für die Justiz schlichtweg irrelevant», bestätigt auch Stefan Loppacher, der Präventionsbeauftragte des Bistums Chur. Bestehe ein ausreichender Verdacht, könnten die Behörden aktiv werden.
Dass Täter so oft ungestraft davonkamen und -kommen, habe andere Gründe: Oftmals sind Opfer von Sexualdelikten traumatisiert und können erst Jahrzehnte später über das Erlebte sprechen, die Taten seien dann aber oft schon verjährt. Auch handle es sich bei sexuellem Missbrauch meist um Vier-Augen-Delikte – es gebe also üblicherweise keine weiteren Zeug*innen, die das Verbrechen früher melden könnten.
Bischof Markus Büchel: «Ich bin ertappt worden»
«Ich habe keine Anzeige eingereicht, obwohl ich es hätte tun sollen», so der St. Galler Bischof Markus Büchel in Bezug auf die sexuellen Missbräuche in der katholischen Kirche. Er sei gewiss ertappt worden, denke im Moment aber noch nicht daran, von seinem Amt zurückzutreten.
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Hinzu komme das von den Studienautor*innen kritisierte System der Vertuschung: «Die Kirche hat die Justiz in vielen Fällen aktiv behindert, indem etwa Priester ins Ausland versetzt wurden oder Missbrauchsvorfälle, die intern gemeldet wurden, nie zur Anzeige gebracht wurden.»
Loppacher begrüsst, dass die Studie der Universität Zürich problematische Dynamiken innerhalb der Kirche offenlegt und hofft, dass dadurch überfällige Veränderungen angestossen werden. «Ich habe schon mehrfach mit Opfern von Missbrauch gesprochen. Ihr Leid vergesse ich nie.»
Kirchenrecht schütze das System, nicht die Täter
Der Präsident der Aargauer Landeskirche äussert sich ebenfalls kritisch zur Rolle von Kirchenvertretern. «Es steht der Kirche nicht an, solche Strafen selbst zu ahnden. Dafür ist der Staat zuständig», sagte Luc Humbel zum Portal «Horizonte» über die sexuellen Missbrauchsfälle.
Zu häufig würden Amtsträger noch immer im kanonischen Recht denken. Dabei sei das Kirchenrecht «gerade im Bereich von Straftaten nicht auf der Höhe der Zeit. Es ist geprägt davon, das System und nicht die Opfer zu schützen. Das ist verwerflich. Das staatliche Recht geht immer vor», sagt Humbel.
Baume-Schneider vertraut auf die Justiz
Die zuständige Bundesrätin, Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider, hofft, dass sich jetzt etwas tut – und zwar aufseiten des weltlichen Rechts.
«Das Kirchenrecht schliesst das staatliche Justizsystem in keiner Weise aus. Im Gegenteil. Ich habe grosses Vertrauen, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte ihre Verantwortung wahrnehmen.» Das sagte Baume-Schneider zur «Tagesschau» von SRF.
Die Historiker*innen der Universität Zürich interessieren sich ebenfalls für das Verhältnis zwischen Kirche und Staat: Sie wollen ihr Forschungsprojekt nahtlos weiterführen. Zu klären sei unter anderem, welche Verantwortung der Staat für die jetzt aufgedeckten Missstände trage.
Der Churer Bischof Joseph Bonnemain wurde mit der Leitung einer kircheninternen Untersuchung der Missbrauchsfälle beauftragt.
Joseph Bonnemain: «Wir haben wie einen Krebs mittendrin»
Katholische Kleriker und Ordensangehörige haben in der Schweiz in den vergangenen 70 Jahren mindestens 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch begangen. Das zeigt die erste Analyse von Geheimarchiven römisch-katholischer Institutionen durch Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich (UZH). Im Interview mit Keystone-SDA nimmt der Bischof von Chur, Joseph Bonnemain, Stellung.