Interview «Damit geht der Bundesrat an die Grenzen seines Spielraums»

Von Gil Bieler

8.4.2020

Vier Bundesräte, eine Krise: Guy Parmelin, Karin Keller-Sutter, Simonetta Sommaruga und Alain Berset (v. l.) traten am 13. März gemeinsam vor die Medien.
Vier Bundesräte, eine Krise: Guy Parmelin, Karin Keller-Sutter, Simonetta Sommaruga und Alain Berset (v. l.) traten am 13. März gemeinsam vor die Medien.
Bild: Alessandro della Valle/Keystone

Der Bundesrat regiert in der Krise per Notrecht – und ritzt die Grundrechte. Das Versammlungsverbot sieht Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser kritisch. Und er erklärt, welche Rolle nun dem Parlament bleibt.

Herr Glaser, seit der Bundesrat per Notrecht regiert, geht alles zügig, das Vertrauen im Volk steigt. Braucht es da überhaupt noch ein Parlament?

(Lacht) Ja, natürlich könnte man sagen: Wenn die Ergebnisse stimmen, wie das derzeit der Fall ist – sprich, die Coronavirus-Welle wird erfolgreich bekämpft –, dann könnte man sich schon die Frage nach dem Parlament stellen. Oder ob es noch ein Volk braucht, das reinfunkt. Aber wenn eine Regierung einfach allein entscheiden kann, dann wären wir natürlich keine Demokratie mehr.

Das Parlament tritt im Mai zu einer Sondersession zusammen. Kann es überhaupt mehr tun, als die bundesrätlichen Massnahmen abzusegnen?

Rein rechtlich, von der Verfassung her gesehen, hat es alle Möglichkeiten, Massnahmen des Bundesrats wieder aufzuheben und eigenständig Akzente zu setzen – auch im Sinne des Notrechts. Das Parlament kann, genau wie der Bundesrat, Verordnungen erlassen, die nicht dem Referendum unterstehen und mit denen notrechtlichen Massnahmen ergriffen werden können. Rechtlich wäre also all das möglich, politisch ist es derzeit aber wenig realistisch.



Das Parlament kann also Verordnungen des Bundesrats kassieren, wenn diese zu weit gehen?

Genau, das Parlament kann dann eine eigene Verordnung erlassen und weiterhin Gesetze erlassen. Es kann diese auch als dringlich erklären und damit ein Referendum ausschliessen. Rechtlich gesehen hat es daher sogar noch stärkere Instrumente zur Hand und damit weitergehende Möglichkeiten zum Regieren als der Bundesrat. Auf solchem Weg erlassene Gesetze können nicht mehr infrage gestellt werden, wohingegen Verordnungen im Nachhinein allenfalls noch angefochten werden können.

Die Notrecht-Verordnungen kratzen auch an diversen Grundrechten. Ich würde ein paar Punkte gern mit Ihnen durchgehen und um eine Einschätzung bitten. Wie steht es um die Versammlungsfreiheit?

Versammlungen von mehr als fünf Personen werden aufgelöst. Entsprechend sind auch richtige Versammlungen wie beim Klimastreik, Frauenstreik oder «Marsch fürs Läbe» momentan verboten.

Und ist das auch rechtens?

Andreas Glaser ...
zVg

... ist Professor am Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht unter besonderer Berücksichtigung von Demokratiefragen an der Universität Zürich. Er ist ausserdem Direktor des Zentrums für Demokratie Aarau.

Nun, jede Einschränkung der Grundrechte muss gewisse verfassungsrechtliche Voraussetzungen erfüllen, das heisst: Es braucht eine gesetzliche Grundlage. Für den Moment ist das die Verordnung des Bundesrats. Dann muss ein öffentliches Interesse gegeben sein – das ist der Schutz der Gesundheit.

Die Frage ist allerdings bei jeder dieser Massnahmen und Einschränkungen der Grundrechte: Ist das verhältnismässig? Oder könnte man auch mit milderen Mitteln dasselbe Ziel erreichen? Bei der Versammlungsfreiheit wären zum Beispiel strengere Abstandsregeln statt eines generellen Verbots denkbar. Hier hat die Regierung den Holzhammer ausgepackt, da so gut wie keine Ausnahmeregelungen vorgesehen sind.

Ihre Einschätzung: Ist das verhältnismässig oder nicht?

Es gibt sicher Versammlungen, die man gut verschieben kann, weil sie zeitlose Probleme aufgreifen oder kommerzieller Natur sind. Die könnte man mit Blick auf den Gesundheitsschutz verbieten. Was in einer Demokratie meiner Meinung nach aber erlaubt sein müsste, sind Demonstrationen gegen die Massnahmen des Bundesrats. Da müsste man jeden Einzelfall beurteilen. Wenn es um die politische Meinungsäusserung geht, müsste man auch Ausnahmebewilligungen erteilen – und die Teilnehmer eines Protestmarsches müssten vielleicht drei Meter Abstand zueinander halten.



Wie sehen Sie den Entscheid, den Abstimmungssonntag vom 17. Mai zu verschieben?

Hinter die Aussage des Bundesrates, dass es zwingende Gründe für diese Verschiebung gebe, setze ich ein Fragezeichen. Man sieht ja, dass in anderen Kantonen auch jetzt noch Wahlen durchgeführt werden. Wieso sollte das bei Abstimmungen anders sein? Das einzige Argument, das der Bundesrat vorgebracht hat, ist, dass die Meinungsbildung nicht gewährleistet sei. Damit geht der Bundesrat stark an die Grenzen seines Einschätzungsspielraums.

Empirische Daten zeigen, dass das Abstimmungsbüchlein und Medienberichte mehr Einfluss haben als eine politische Podiumsdiskussion oder Saalveranstaltungen mit wenigen hundert Teilnehmern. Ich halte den Entscheid, die Abstimmungen zu verschieben, daher für sehr zweifelhaft.

Im Kanton Aargau wurden die Möglichkeiten für die Videoüberwachung massiv ausgebaut.

Da wird ein weiteres Grundrecht eingeschränkt: die informationelle Selbstbestimmung. Es hängt natürlich davon ab, wofür die erhobenen Daten gebraucht werden. Wenn sie anonymisiert erhoben werden und es nur darum geht, Menschenansammlungen zu überwachen, dann wäre das unproblematisch. Bei einer Verkehrszählung ist das ja ähnlich. Wenn die Aargauer Polizei die Daten auch dazu nutzen würde, um Delikte aufzuklären, dann sähe das anders aus.

Im Asylwesen können Befragungen von Asylsuchenden neu auch ohne Rechtsvertreter durchgeführt werden.

Da stellt sich die Frage, ob es nicht andere Lösungen gibt, dass eben doch ein Rechtsvertreter teilnimmt. Mit technischen Mitteln lassen sich bestimmt Lösungen finden, die vielleicht nicht optimal, aber doch besser als eine Nulllösung sind. Bei der Diskussion um technische Mittel kommen natürlich schnell Datenschutzbedenken auf, aber wahrscheinlich ist das Risiko klein, dass sich Hacker von aussen in diese Gespräche einmischen würden. Wenn man die Verhältnismässigkeit anschaut, gibt es sicher mildere Möglichkeiten, um dieses Problem in den Griff zu bekommen.

Wenn ein Bürger sich gegen diese Massnahmen zur Wehr setzen will, wie geht er da vor?

Das geht ganz normal: Allermeistens sind es kantonale Behörden, die zuständig sind, allenfalls auch einmal die Gemeinde. Dann muss man sich an die jeweilig zuständige Instanz wenden. In vielen Fälle dürften das in erster Instanz die Departemente der Regierungen sein, aber dann kann man seine Einsprache auch weiterziehen über das Verwaltungsgericht bis hin zum Bundesgericht. Der Rechtsschutz ist ja nicht ausser Kraft gesetzt, man kann also gegen jede dieser Massnahmen Beschwerde erheben.

In anderen Ländern mit eher autokratischen Regierungen wächst nun die Sorge, dass die Krise zu einem Machtausbau genutzt wird. In der Schweiz besteht diese Gefahr also nicht?

In der Schweiz ist die Situation tatsächlich eine andere: Der Bundesrat ist in gewissem Masse ein Spiegelbild des Parlaments, wir kennen kein System aus Regierung und Opposition, und es ist ein Siebnergremium an der Macht. Dadurch ist der Anreiz für den Bundesrat, seine Macht nun auszubauen oder gar zu missbrauchen, kleiner als bei Ländern mit einem einzigen Herrscher. Viktor Orban in Ungarn oder Emmanuel Macron in Frankreich sind da einer ganz anderen Versuchung ausgesetzt. Im Bundesrat dagegen sind ja schon entgegengesetzte Kräfte eingebunden, und die Sieben kontrollieren sich – über die Parteien – auch gegenseitig.



In vielen Ländern gibt es ein Verfassungsgericht, in der Schweiz nicht. Wieso eigentlich?

Es gibt zwar kein spezifisches Gericht, bei dem man eine Verordnung anfechten kann, aber das heisst nicht, dass es in der Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt. Man kann ja, wie eben gesagt, die konkrete Umsetzung von Verordnungen oder Gesetzen durch die kantonalen Behörden anfechten und anführen, dass die eigenen Grundrechte verletzt würden. Dass wir kein eigenes Verfassungsgericht haben, hat historische Gründe. Das Parlament sollte als oberstes Organ handeln und bei der Gesetzgebung nicht der Kontrolle durch ein Gericht unterliegen. Dafür besteht aber eine direktdemokratische Kontrolle durch das Referendum.

Letzte Frage: Das Notrecht ist für maximal sechs Monate in Kraft gesetzt worden. Und danach? Könnte der Bundesrat es beliebig verlängern?

Diesen Punkt müssen wir nun genau beobachten. Die Verfassung verlangt zwar eine Befristung, lässt aber offen, wie lange der Bundesrat ohne Parlament und Volk regieren darf. Es wird spannend sein, zu sehen, ob er die Frist nochmals verlängert. Wenn er das tut – und das könnte er –, würde es wirklich kritisch. Dann müsste sich das Parlament überlegen, ob es diese Verordnung nicht übersteuern will. Sonst würde uns ein Vollmachtenregime wie im Zweiten Weltkrieg drohen. Doch was ich von den Parlamentariern in den Medien höre und lese, sind sie durchaus willens, das Heft wieder in die Hand zu nehmen.

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