Interview «Brav abzuwarten, hätte erst recht zu Enttäuschung geführt»

Von Gil Bieler

21.11.2019

Flucht nach vorne: Grünen-Parteichefin Regula Rytz gab heute ihre Kandidatur für den Bundesrat bekannt.
Flucht nach vorne: Grünen-Parteichefin Regula Rytz gab heute ihre Kandidatur für den Bundesrat bekannt.
Bild: Keystone

Mit der Bundesratskandiatur von Regula Rytz suchen die Grünen den Befreiungsschlag, sagt Politologin Cloé Jans. Im Interview erklärt sie, wie realistisch die Wahlchancen sind – und welche Rolle der CVP zukommt.

Entscheiden wird die Grünen-Fraktion morgen Freitag, doch das dürfte nur noch Formsache sein: Grünen-Parteichefin Regula Rytz kandidiert für den Bundesrat, wie die Berner Nationalrätin am Donnerstag bekanntgab

Dafür muss Rytz ein amtierendes Mitglied der Landesregierung angreifen. Ins Visier nimmt sie die FDP: In der neuen Zauberformel, die sie skizzierte, haben SVP und SP zwei Sitze, CVP, FDP und Grüne je einen. Ist die Zeit reif für einen grünen Bundesratssitz?

«Bluewin» hat die Politologin Cloé Jans vom Forschungsinstitut gfs.bern um eine Einschätzung gebeten. 

Der Zeitpunkt für eine Grünen-Kandidatur sei gekommen, sagte Regula Rytz. Sehen Sie das genauso?

Ich glaube, die Grünen sind einfach extrem unter Druck. Sie müssen handeln und zeigen, dass sie nicht nur aus der Opposition Schlagwörter einbringen, sondern auch bereit sind, etwas zu tun. Indem sie nun die Kandidatur ankündigen, wagen sie den Befreiungsschlag. So spielen sie den Ball ein Stück weit auch den anderen Parteien zu.

Als Partei haben die Grünen auch nicht allzu viel zu verlieren, indem sie diese Kandidatur ankündigen. Wie das für Regula Rytz als Person aussieht, ist eine andere Frage. Aber es wäre wohl in der Basis kaum auf Verständnis gestossen, wenn man nun einfach zugewartet hätte. Frau Rytz hat ja selber gesagt: Die Grünen haben einen klaren Auftrag erhalten.

Wenn es am Ende doch nicht klappen sollte mit dem Bunderatssitz, dann würde die Partei doch ihr Gewinner-Image verlieren?

Aber wenn sie das nun einfach brav ausgesessen und bis zur nächsten Vakanz gewartet hätte, dann wäre erst recht Enttäuschung aufgekommen. Dann hätte es geheissen: «Die Grünen haben keine Zähne», «Denen ist es gar nicht ernst», «Die haben keinen Punch» etc. Und es ist ja auch nicht so, dass man weg vom Fenster wäre, wenn man eine Bundesratswahl verliert. Das zeigt das Beispiel von Karin Keller-Sutter gut.



Wie sehen denn überhaupt die Wahlchancen aus für einen grünen Bundesrat?

Ich habe mich gerade mit meinen Kollegen ausgetauscht, und wir meinen: eher gering. Die SP würde die Kandidatur sicher mittragen. Die Grünliberalen müssten das eigentlich auch, rein von der thematischen Ausgangslage betrachtet – obwohl man da nach den Ständeratswahlen in Zürich nicht mehr zu 100 Prozent sicher sein kann. Aber darüber hinaus wird es schon schwierig.

Zur Person
Foto: zVg

Cloé Jans ist Politologin beim Forschungsinstitut gfs.bern.

Die CVP wäre die bestimmende Kraft, doch deren Präsident Gerhard Pfister hält sich dazu bedeckt. Im nächsten Jahr stehen kantonale Wahlen an, bei denen es für die CVP wieder um viel geht. Und wie gut das bei der Stammwählerschaft ankäme, wenn man nun den Grünen als Steigbügelhalter dient, ist fraglich. Zumal man der FDP, der natürlicheren Verbündeten der CVP, damit vor den Bug schiessen würde. Darum stehen die Wahlchancen eher schlecht.

Also müsste am ehesten FDP-Bundesrat Ignazio Cassis seinen Sitz abtreten.

Ja. Weil: Ohne die SP können die Grünen diese Wahl ohnehin nicht gewinnen, also greift man deren Sitze nicht an. Das wäre ja auch eine Kannibalisierung im eigenen Lager. Viola Amherd ist die einzige Vertreterin der CVP und relativ neu gewählt. Karin Keller-Sutter von der FDP ist ebenfalls neu und sitzt, was den Ruf im Parlament angeht, fester im Sattel als Cassis. Und einen SVP-Sitz anzugreifen wäre politisch äusserst schwierig und sicher keine gute Strategie.

Sind die Zeiten der starren Zauberformel nun definitiv vorbei?

Die Zauberformel ist schon seit den Nullerjahren nicht mehr dieselbe. Man muss sich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass die Politik generell volatiler wird – auch im Parlament. Und daher muss sich auch der Bundesrat verabschieden von dieser «ewig gültigen» Formel. Was ich aber fast wichtiger finde als die Zusammensetzung, das ist die Art und Weise, wie der Bundesrat gewählt wird.



Was meinen Sie konkret?

Für die Stabilität des Systems ist es wichtig, dass keine Amtierenden abgewählt werden, sondern dass eine neue Zusammensetzung im Rahmen einer regulären Erneuerungswahl stattfindet. Denn das Schöne an unserem System – gerade mit Blick ins Ausland – ist, dass der Bundesrat nicht koalitionsbasiert funktioniert – und dass Wahlen kein Plebiszit darüber sind, wie gut die Regierung ihre Arbeit gemacht hat.

Diese Stabilität wird auch durch die informelle Regel gewährleistet, dass Bundesräte nicht abgewählt werden. Sobald ein Bundesrat damit rechnen müsste, dass er alle vier Jahre abgewählt wird, würde das die Arbeitsweise der Regierung deutlich verändern.

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