Einschätzung zum Berset-Rückzug «Berset und die SP haben eine riskante Strategie gewählt»

Von Andreas Fischer

21.6.2023

Der Pandemie-Minister zieht sich aus dem Amt zurück

Der Pandemie-Minister zieht sich aus dem Amt zurück

Alain Bersets Name dürfte verbunden bleiben mit einer der schwersten Krisen in der jüngsten Zeit: der Covid-19-Pandemie. Aber er ist auch der Sozialminister, dem eine substanzielle AHV-Reform gelungen ist. Am Mittwoch hat Berset den Rücktritt angekündigt.

21.06.2023

Nach bald zwölf Jahren ist Schluss: Alain Berset hört auf Ende Jahr als Bundesrat auf. Was Skandale damit zu tun haben und ob Berset seiner Partei einen Gefallen getan hat, analysiert Politologe Oliver Strijbis.

Von Andreas Fischer

21.6.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Alain Berset hört Ende Jahr als Bundesrat auf.
  • Politikwissenschaftler Oliver Strijbis erklärt, welchen Einfluss die Ankündigung des Rückzugs auf die Eidgenössischen Wahlen im Herbst hat – und ob der zweite SP-Sitz im Bundesrat in Gefahr gerät.
  • Strijbis sagt, es wäre falsch, Berset als gescheiterten Bundesrat hinstellen zu wollen.

Seine zweite Amtszeit als Bundespräsident will Alain Berset noch zu Ende bringen. Dann aber ist nach drei Legislaturen im Departement des Innern, 29 Volksabstimmungen und einer Pandemie Schluss im Bundesrat. Alain Berset will sich im Dezember nicht erneut zur Wahl stellen. Mit dem Rückzug konnten Beobachter rechnen, der Zeitpunkt der Ankündigung überraschte jedoch. 

Ist Berset und der SP im Wahljahr eine taktische Meisterleistung gelungen? Oder wird auf Risiko gespielt? Und was haben Besets Skandale und seine schwindende Popularität mit seinem Entscheid zu tun? – Einschätzungen des Politikwissenschaftlers Oliver Strijbis von der Universität Zürich, den blue News kurz nach der Medienkonferenz Bersets erreichte.

Zur Person
zVg

Oliver Strijbis ist SNF Förderungsprofessor am Institut für Politikwissenschaften der Uni Zürich. Er forscht schwerpunktmässig unter anderem zu Wahlen und Volksabstimmungen.

Alain Berset wirkte bei der Ankündigung seines Rückzugs aus dem Bundesrat ein wenig amtsmüde …

Alain Berset ist Politiker durch und durch und fällt solche Entscheide nicht aus dem Bauch heraus. Zwar mag das persönliche Befinden eine Rolle dabei gespielt haben, als Bundesrat aufhören zu wollen: Aber der Entscheid beruht auf wohlüberlegten politischen und strategischen Beweggründen.

Welche Beweggründe könnten das Ihrer Einschätzung nach gewesen sein? Welche Rolle spielten die jüngsten Skandale wie die «Blick»-Affäre dabei?

Man sollte nicht allzu viel in Bersets Entscheid reininterpretieren. Ich glaube, er wollte einfach nicht mehr Bundesrat sein. Er ist ja schon lange im Amt und hatte eine intensive Zeit – unter anderem als Gesundheitsminister während der Coronapandemie. Seine Skandale und Skandälchen zeigen vielleicht, dass er beruflich zu stark gefordert war.

Ist der Zeitpunkt von Alain Bersets Rücktrittsankündigung klug gewählt?

Er hat den Zeitpunkt sicherlich gewählt, um seiner Partei für die Eidgenössischen Wahlen im Herbst Auftrieb zu geben. Es wird jetzt viel darüber gesprochen werden, welche SP-Politiker die besten Chancen haben, Bundesrätin oder Bundesrat zu werden. Dadurch haben die Sozialdemokraten eine hohe Medienpräsenz und können damit auch ihre Kandidierenden für die Parlamentswahlen optimal präsentieren.

Wie schätzen Sie sein politisches Vermächtnis ein: Was bleibt von Bundesrat Alain Berset?

Sein grösster Erfolg war sicherlich das Handling der Coronapandemie: Er hat in dieser Zeit sehr grosses Vertrauen in der Bevölkerung genossen. Kritik an seinem Ministerium blieb nicht persönlich an ihm hängen. Er hat es als linker Minister geschafft, relativ breite Kompromisse im bürgerlich dominierten Bundesrat durchzusetzen. Im Grossen und Ganzen hat er den sogenannten «Schweizer Weg» in der Coronakrise recht gut bewältigt – was im Nachhinein nicht heisst, dass die Coronakrise ideal bewältigt wurde.

Und was ist Berset als Bundesrat nicht gelungen?

Seine grösste Niederlage ist, dass er es nicht geschafft hat, die Altersversicherung so zu reformieren, wie er es sich vorstellte – nämlich möglichst sozial gerecht. Berset hat zwar im Bundesrat einen Kompromissvorschlag durchgebracht – wie gesagt als Linker in einer Mitte-Rechts dominierten Regierung. Allerdings ist der Kompromiss an der Urne dann knapp gescheitert. Danach trat genau das ein, was Berset verhindern wollte: Nämlich die Erhöhung des Rentenalters in der AHV ohne einen grösseren sozialen Ausgleich.

Im Auftreten wirkte Alain Berset zuletzt etwas dünnhäutig, wenn es um Kritik ging …

Es ist nicht mein Eindruck, dass dies für seine ganze Amtszeit gilt. Er war über weite Strecken ein sehr beliebter Bundesrat, galt als intelligent und staatsmännisch. Sicherlich haben einige Fehltritte seinem Image in der Öffentlichkeit geschadet, wobei sich nicht einschätzen lässt, wie sehr ihn das störte. Es wäre sicherlich falsch, ihn als gescheiterten Bundesrat hinstellen zu wollen.

Dennoch rauschten Bersets Popularitätswerte zuletzt ab: Woran liegt das?

Die Popularität während der Coronapandemie, die Alain Berset aufgrund seiner Funktion genoss, ging verloren. Berset war ziemlich dominant in den Medien, das führt tendenziell irgendwann zum Überdruss in der Bevölkerung. Zudem wurde er immer heftig vor allem von der SVP angegriffen. Die Kampagne gegen seine Person hat nach der Pandemie Wirkung gezeigt.

Sein Management sah man nach der Pandemie kritischer, während man in der Krise froh war, jemanden zu haben, der als fähig galt, die Schweiz durch diese Zeit zu manövrieren. Kurz gesagt: Der Absturz basiert auf dem vorherigen Höhenflug, kombiniert mit einem gewissen Überdruss. Ich beobachtete immer wieder, dass sich Wählerinnen und Wähler irgendwann einen Wechsel wünschen, wenn dominante Politiker sehr lange im Amt sind.

Glauben Sie, dass es parteiinternen Druck gegeben hat?

Es könnte vielleicht den Wunsch gegeben haben, Berset möge zurücktreten. Aber um Druck auszuüben, fehlen der Partei die Möglichkeiten. Generell haben die Parteien in der Schweiz keine ernsthaften Druckmittel gegenüber ihren Bundesräten, die eigentlich auch gar nicht mehr «ihre» Bundesräte sind.

Was bedeutet Bersets Rücktritt für die Zusammensetzung des Bundesrates nach der kommenden Wahl? Haben die Grünen jetzt eine bessere Chance, den SP-Sitz anzugreifen?

Interessant ist, dass Berset und die SP eine riskante Strategie gewählt haben. Sie wetten darauf, dass sie ihren zweiten Sitz verteidigen können und dass Bersets Rücktritt ihnen im Wahlkampf hilft. Ihr Kalkül ist, dass es den Grünen nicht gelingen wird, der SP ausreichend Stimmen abzujagen, um einen Angriff auf den vakanten SP-Sitz zu legitimieren.

Diese Gefahr, dass es wider Erwarten zu grösseren Verschiebungen bei den Wahl im Herbst kommt, ist zwar gering, aber sie besteht. Und dann könnte der zweite Bundesratsitz der SP in Gefahr geraten.

Welche Art von Kandidaten könnten für die Nachfolge von Alain Berset infrage kommen?

Zurzeit gibt es ein Übergewicht der lateinischen Schweiz im Bundesrat: Die Wahrscheinlichkeit ist daher hoch, dass eine Deutschschweizerin oder ein Deutschschweizer Bersets Nachfolge antritt. Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Kanton Bern dürften es dabei schwieriger haben.

Dass es wieder ein Mann wird, ist gut möglich, aber längst nicht ausgemacht. Wichtig ist auch, dass man nicht vergessen darf, dass Mitte-Rechts eine Mehrheit im Parlament hat: Nachdem zuletzt die dezidiert linke Elisabeth Baume-Schneider Bundesrätin wurde, werden die bürgerlichen Parlamentarierinnen und Parlamentarier darauf schauen, dass es jemand aus dem rechten Flügel der SP wird. Wenn es denn jemand aus der SP wird.

So antwortet Alain Berset auf die harten Fragen der Journalisten

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