Um Milliarden verrechnet Müssen wir nach dem AHV-Debakel erneut abstimmen?

tbz

7.8.2024

Tamara Funiciello, Co-Präsidentin der SP Frauen, fordert eine Wiederholung der Abstimmung zum Rentenalter 65.
Tamara Funiciello, Co-Präsidentin der SP Frauen, fordert eine Wiederholung der Abstimmung zum Rentenalter 65.
Bild: KEYSTONE

Die AHV-Rechenpanne hat eine Welle der Entrüstung ausgelöst. Das linke Lager pocht auf eine Wiederholung der Abstimmung zum Rentenalter der Frauen. Wie wahrscheinlich ist so ein Szenario?

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Nach der AHV-Rechenpanne beim Bund fordert das linksgrüne Lager eine Wiederholung der Abstimmung zum Rentenalter 65.
  • Aus historischer Sicht dürften die Chancen auf eine Annullierung des Resultats durch das Bundesgericht eher gering sein.
  • Erst einmal kam es zu einer Annullierung eines Abstimmungsresultats durch das oberste Gericht der Schweiz.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat bei der Berechnung der Finanzperspektiven der AHV zwei fehlerhafte mathematische Formeln verwendet. Dadurch wurden die Ausgaben der AHV bis 2033 zu hoch eingeschätzt. Nach ersten, noch provisorischen Schätzungen des BSV, wurden die Ausgaben im Jahr 2033 um rund 4 Milliarden Franken überschätzt.

Der Bund hat am Dienstag eine Administrativuntersuchung angeordnet, die klären soll, worauf der Fehler zurückzuführen ist. Die Ergebnisse der Untersuchung sollen Ende 2024 vorliegen, heisst es seitens des Bundes.

Derweil hat die Rechenpanne eine Welle der Entrüstung bei Parteien und Gewerkschaften ausgelöst. Besonders mit Blick auf die Abstimmung zur Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 (AHV 21) wirft die falsche Prognose des Bundes Fragen auf.

Am 25. September 2022 haben Volk und Stände die Reform AHV 21 angenommen. Am 1. Januar 2024 trat sie in Kraft. Weil das Ergebnis vor zwei Jahren mit 50,55 Prozent Jastimmen hauchdünn ausfiel, stellt sich nun die Frage, ob eine positivere AHV-Prognose des Bundes dieses Resultat hätte kippen können.

SP Frauen und Grüne fordern Wiederholung der Abstimmung

«Die scheinbar dramatischen Finanzprognosen der AHV waren einer der Hauptgründe, weshalb die Erhöhung des Frauenrentenalters im September 2022 eine hauchdünne Mehrheit fand. Jetzt zeigt sich: Diese Panikmache, wie von den SP Frauen längst vermutet, hat keine sachliche Grundlage», schreiben die SP Frauen in einem Communiqué und fordern: «Die Abstimmung über die Erhöhung des Frauenrentenalters muss wiederholt werden.»

Unterstützung gibt's von den Grünen. Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber ist sich sicher: «Die Erhöhung des Frauenrentenalters wurde nur von einer hauchdünnen Mehrheit und auf Basis von falschen Zahlen des Bundesrates angenommen.» Auch Präsidentin Lisa Mazzone findet klare Worte: «Den Frauen wurde ein Jahr Rente gestohlen. Das können wir nicht so stehen lassen. Die Abstimmung muss wiederholt werden.»

Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» bestätigt Mazzone, dass die Grüne Partei eine Abstimmungs­beschwerde einreicht. In den nächsten Tagen wollen auch die SP Frauen «die politischen und juristischen Möglichkeiten prüfen, um Parlament und Bundesrat in die Verantwortung zu nehmen», heisst es in deren Stellungnahme weiter.

Zweite Abstimmung wohl eher unwahrscheinlich

Aus historischer Sicht dürfte eine Wiederholung der Abstimmung keine grossen Chancen haben. Der Grund: Das Bundesgericht hat sich in solchen Fällen in der Vergangenheit meist zurückhaltend gezeigt. Tatsächlich kam es erst einmal zu einer Annullierung eines Abstimmungsresultats durch das Bundesgericht.

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider muss einen Rechenfehler erklären, der schwer erklärbar ist.
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider muss einen Rechenfehler erklären, der schwer erklärbar ist.
Bild: Keystone

Nachdem das Volk im Jahr 2012 die Initiative der CVP «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» mit 50,8 Prozent abgelehnt hatte, kam im Nachgang heraus, dass der Bund über die Zahl der von der Heiratsstrafe betroffenen Paare falsche Zahlen publiziert hatte. Der Bund bezifferte die Zahl der Betroffenen damals fälschlicherweise auf 80'000, später wurde klar, die korrekte Zahl lag bei 454'000.

Obwohl es auch bei der Abstimmung zur AHV zu einer Rechenpanne kam, gibt es heuer einen möglicherweise entscheidenden Unterschied: Die Initiative im Jahr 2012 wurde abgelehnt. Dadurch musste das Bundesgericht mit seinem Entscheid keine neuen Gesetzesnormen aufheben. Diese Tatsache hielten die obersten Richter damals auch im Urteil des Bundesgerichts fest. Die AHV 21 hingegen wurde angenommen und trat am 1. Januar 2024 bereits in Kraft.

Gleich dreimal neu abstimmen?

Sollte über das Rentenalter der Frauen noch einmal abgestimmt werden, müssten wohl zudem neue Abstimmungen für die 13. AHV-Rente und die Initiative für ein Rentenalter 67 stattfinden. Denn alle drei Abstimmungen bezogen sich auf die vom Bund zu hoch berechneten AHV-Ausgaben.

Das hilft den SP-Frauen nicht. Je mehr Gesetze bereits in Kraft getreten sind und je stärker sich die Gesellschaft auf diese ausgerichtet hat, desto kleiner sind tendenziell die Chancen auf die Annullierung eines Abstimmungsresultats. Das zeigte sich vor Jahren bei der Beschwerde über die Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform II, als das Bundesgericht von einer Aufhebung der Abstimmung absah, und gab als Grund an, dass sich zahlreiche Unternehmen bereits auf das neue Recht ausgerichtet hätten.

Die Beschwerde der Grünen dürfte aber nicht chancenlos sein. Entscheidend dürfte in erster Linie sein, inwieweit die falschen Berechnungen in die Abstimmungsinformationen eingeflossen sind, erklärt Markus Kern, Staatsrechtsprofessor an der Universität Bern beim «Tages Anzeiger».

Innenministerin Baume-Schneider leitet nach AHV-Rechenpanne Untersuchung ein

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