Russen verlassen AKW Saporischschja Wird Putins Plan für einen Nuklear-Anschlag jetzt konkret?

Von Andreas Fischer

1.7.2023

Lage am ukrainischen Akw Saporischschja laut IAEA «ernst»

Lage am ukrainischen Akw Saporischschja laut IAEA «ernst»

Bei einem Besuch des russisch kontrollierten Atomkraftwerks Saporischschja im Süden der Ukraine hat der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, die Lage als «ernst» eingestuft. es würden aber «Massnahmen zur Stabilisieru

15.06.2023

Truppen der russischen Besatzer ziehen sich aus dem AKW Saporischschja zurück. Dadurch steigt die Befürchtung eines atomaren Zwischenfalls. Etwa 300’000 Menschen wären unmittelbar betroffen.

Von Andreas Fischer

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Ukraine warnt immer deutlicher vor einem möglichen Anschlag auf das Kernkraftwerk Saporischschja.
  • Laut Geheimdienst sind entsprechende Pläne der russischen Besatzer bereits sehr konkret und könnten innert Minuten umgesetzt werden.
  • Der Kreml dementiert alle Gerüchte, zieht aber Personal ab. Die verbleibenden Leute, sollen «bei einem Notfall der Ukraine die Schuld geben».

Kyrylo Budanow vermutet es schon länger: Russland plane einen Anschlag auf das AKW Saporischschja, warnt der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes seit Wochen. Europas grösstes Kernkraftwerk wurde kurz nach Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt.

Seit mehr als 16 Monaten ist die Anlage nun unter der Kontrolle des Kreml. Hin und wieder darf die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) vor Ort nach dem Rechten sehen. Was aber wirklich hinter den dicken Betonmauern passiert, bleibt ihnen verborgen.

«Das Schlimmste ist, dass das Kernkraftwerk Saporischschja ebenfalls vermint worden ist», hat Budanow vor Kurzem im ukrainischen TV gesagt. Demnach hätten Russen Sprengsätze am Kühlsystem installiert. «Wenn sie den hochjagen, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es signifikante Probleme geben wird.»

Russland zieht Truppen und Personal ab

Wozu Russland im Krieg bereit ist, hat die Sprengung des Kachwoka-Staudamms am 6. Juni gezeigt. Die Lage um das Kernkraftwerk, das nahe der Front liegt und mehrfach unter Beschuss stand, weckt nicht erst seitdem Sorge vor einer Atomkatastrophe. Die Angst vor einem atomaren Zwischenfall ist in Kiew allerdings weiter gestiegen. Nicht nur bei Geheimdienstchef Budanow, auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte mehrmals vor einem Anschlag.

Moskau weist solche Vorwürfe immer wieder zurück. Doch erst am Freitag teilte das ukrainische Verteidigungsministerium auf Telegram mit, die russischen Besatzer verringerten ihre Präsenz auf dem Gelände des Atomkraftwerks. Dies berichtet die Nachrichtenagentur «Reuters». 

«Nach den neuesten Erkenntnissen verlässt das Besatzungskontingent allmählich das Gebiet des Kernkraftwerks Saporischschja», teilte der Nachrichtendienste des Militärs demnach über die Messaging-App mit. Zudem sollen ukrainische Mitarbeiter angewiesen worden, das Gelände bis 5. Juli zu verlassen – bevorzugterweise in Richtung Krim. Das im Kraftwerk verbliebene Personal sei angewiesen worden, «bei einem Notfall der Ukraine die Schuld zu geben».

Sprengstoff an vier von sechs Reaktoren

Kyrylo Budanow hat derweil in einem weiteren Interview Details möglicher Anschlagspläne verraten. Ihm zufolge sei die grundsätzliche Entscheidung bereits getroffen worden. Lediglich der konkrete Zeitpunkt stehe noch nicht fest. Würde der Befehl erteilt werden, komme es in kurzer Zeit zu einer nuklearen Katastrophe, sagte er der britischen Wochenzeitung «The New Statesmen». 

Laut Budanow hätten russische Truppen mit Sprengstoff beladene Fahrzeuge zu vier der sechs Kraftwerksblöcke gebracht. Zudem sei der Kühlteich des AKW vermint worden. «Ohne Kühlung könnten die Kernreaktoren des Kraftwerks in einem Zeitraum von zehn Stunden bis 14 Tagen durchschmelzen», so der Geheimdienstchef. «Eine Erhöhung der Spannung in den Stromversorgungsleitungen könnte zu einem Atomunfall am unteren Ende des Zeitrahmens führen.»

Sprengung von Brennstäbe-Lager wahrscheinliches Szenario

Dass Russland die «Reaktoren in die Luft jagen» werde, glaubt die unabhängige Atomexpertin Olga Koscharna nicht. Wahrscheinlicher wäre es, dass sie «die Abkühlbecken für abgebrannte Brennstäbe sprengen oder oder die Wasserzufuhr behindern, wird die Expertin in der deutschen «taz» zitiert

Ähnlich äussert sich Mykola Gawris, Dozent am Polytechnischen Institut der Charkiwer Universität: «Man kann das Reaktorgebäude verminen, den Reaktor selbst jedoch nicht.» Dies sei schon aus baulichen Gegebenheiten nicht möglich.

Doch selbst wenn nur die Abklingbecken oder Trockenlager für Brennstäbe gesprengt würden, hätte dies gravierende Folgen. Zum einen wären die Innenräume des AKW Saporischschja erheblich kontaminiert, zum anderen die Umgebung. Gewirrs glaubt jedoch, dass der grösste Teil der radioaktiven Stoffe im Lager verbleiben würde. Dies aber nur im am wenigsten schlimmsten Szenario.

Im schlimmsten Fall müsste laut Umweltinformatiker Ivan Kovalez die Bevölkerung in einem Umkreis von 20 Kilometern um das AKW sofort evakuiert werden. Gesundheitliche Schäden wären in einem Radius von 550 Kilometern um das AKW zu befürchten. Kommt hinzu, dass durch die Strahlenfolgen grossflächig landwirtschaftlichen Flächen in der Ukraine, Russland und den Nachbarländern unbrauchbar werden.

Ukraine bereitet sich auf den schlimmsten Fall vor

In der Ukraine nimmt man die Warnungen sehr ernst. Vier Regionen im Süden der Ukraine haben bereits Übungen für einen atomaren Notfall abgehalten. Rettungskräfte trainierten in den Regionen um die Städte Cherson, Mykolajiw, Saporischschja und Dnipro für den Ernstfall, wie der ukrainische Atomenergiekonzern Enerhoatom auf Telegram mitteilte. Auch die Zivilbevölkerung wurde vorbereitet.

Die ukrainische Militärverwaltung von Saporischschja gab bereits entsprechende Handlungsanweisungen aus. Man solle im Ernstfall Wasservorräte in luftdichten Behältern anlegen, Schutzkleidung tragen und keine lokal angebauten Lebensmittel verzehren, hiess es unter anderem.

Sollte in der Anlage etwas passieren, würden die Menschen aus strahlenbelasteten Gebieten an einen Ort gebracht, an dem sie medizinisch und psychologisch betreut würden, erfuhr die Nachrichtenagentur AP von den Rettungsdiensten. Etwa 300’000 Menschen aus der nächsten und näheren Umgebung des AKW wären betroffen.