AfD triumphiert in OstdeutschlandWie sage ich meiner Tochter, dass Rechtsextreme gesiegt haben?
Von Andreas Fischer, Leipzig
10.6.2024
EU-Bürgerinnen und Bürger kommentieren Rechtsruck
STORY: HINWEIS: SIE ERHALTEN DIESEN BEITRAG OHNE SPRECHERTEXT Köln, Deutschland O-TON LORENZ FINK «Ja, es ist schockierend. Man weiss ja mittlerweile, dass man einen Rechtsruck hat und so, aber man ist trotzdem ein bisschen so in seiner eigenen Blase und denkt, alle wählen halt nicht so und dann ist es irgendwie doch wieder krass, wenn man das dann so schwarz auf weiss sieht, wie viel diese Parteien dann doch gewählt worden sind, auch europaweit, nicht nur hier in Deutschland.» O-TON NATJA HOFFMANN «Finde ich schade, dass die Rechten so viele Stimmen bekommen haben. In der Tat. Also ich hätte mir ein bisschen mehr Demokratie gewünscht und ich hätte mir andere Parteien gewünscht an der Stelle. CDU finde ich gut.» O-TON CHRISTIANE ABB «Ich finde es enttäuschend, dass die Grünen so schlecht abgeschnitten haben. Die einzige Partei, die wirklich was Sinnvolles tut. Und dann wird sie immer wieder boykottiert und sabotiert, auch von den Bürgern. Weil halt jeder Umweltschutz will, aber niemand auf seine Kosten.» O-TON UDO KARSTEN «Da gibt es Teile der Ampel, denen ich die Schuld dafür geben würde. Oder die müssen sich vielleicht frühzeitig trennen, wie auch immer. Da muss sich auf jeden Fall was ändern, damit es zur Bundestagswahl etwas anders laufen wird.» O-TON DIRK LOOS «Ich finde das wahnsinnig erschreckend, dass so dermassen viel rechts gewählt wird und ich habe Angst, wo das hinführt. Frankreich 38,6 Prozent Le Pen finde ich sehr, sehr erschreckend.» Paris, Frankreich O-TON GABRIEL HALLALI, 29 «Eine historische Katastrophe für unser Land. Wir haben es mit einem Frankreich zu tun, das seine Geschichte vergisst. Die Menschen müssen aufwachen, die Geschichtsbücher aufschlagen, und verstehen, dass die extreme Rechte, die extreme Linke und all die Parteien, die Zwietracht säen, uns geradewegs gegen die Wand fahren.» O-TON PAULINE DURAND, 60 «Das Ergebnis von Bardella überrascht mich nicht, wenn man bedenkt, was in der Gesellschaft passiert. Wir leben in einer Gesellschaft der Unsicherheit und der Gewalt, ohne Anerkennung unserer Arbeit. Das hat mich nicht überrascht. O-TON NATHALIE GABERT, 55 «Es mag hart klingen, aber ich verstehe nicht, warum die Franzosen so dumm und vergesslich geworden sind. Ich bitte sie inständig, am 30. Juni und 7. Juli für die Demokratie und für Frankreich zu stimmen». Budapest, Ungarn O-TON ADAM FEJES «Ich denke, Fidesz ist bei seiner Kernwählerschaft angekommen. Ich freue mich wegen der Tisza-Partei auf die nächsten Wahlen. Ich bin sicher, dass Fidesz nicht zum fünften Mal eine Zweidrittelmehrheit bekommen werden.» O-TON VIKTORIA GEORGINA ORMENY «Tisza, die müssen wir im Auge behalten. Sie haben das innerhalb von drei Monaten geschafft. Man kann sie beglückwünschen, aber Scheisse, das für die Regierungspartei beängstigend. Die müssen wir im Auge behalten.
10.06.2024
Rechts gewinnt: Der Morgen nach der Europawahl beginnt mit einem Kater. Die «gesichert rechtsextreme» AfD holt in Ostdeutschland die meisten Stimmen. Das muss man einem Kind erst mal erklären können.
Von Andreas Fischer, Leipzig
10.06.2024, 20:16
11.06.2024, 08:28
Andreas Fischer
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Bei der Europawahl wurde die AfD in allen ostdeutschen Bundesländern mit Abstand stärkste Kraft.
Die Partei wird von den Behörden in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als «gesichert rechtsextrem» eingestuft.
Unser Autor fragt sich, wie er seinem Kind erklären soll, dass Nazis wieder nach der Macht greifen.
Kurz nach halb neun ist es mir am Sonntagabend rausgerutscht: «Sch**sse, die Nazis.» Meine siebenjährige Tochter war fast schon eingeschlafen, sie schreckte hoch. War nochmal wach, alarmiert: «Was ist, Papa? Was ist mit den Nazis?»
Ich musste ihr etwas Beängstigendes erklären, ohne ihr Angst zu machen.
Dass die Welt kein Einhornparadies ist, wissen meine Töchter. Ich bin da ziemlich direkt. Auch was die deutsche Geschichte und Gegenwart anbelangt. Ich beantworte alle Fragen; ohne jedes grauenhafte Detail zu nennen, aber eben auch ohne etwas zu beschönigen.
Es gibt viele Fragen. Zum Beispiel, wenn am 9. November auf den Trottoirs Kerzen brennen, um an die Opfer des Holocaust zu erinnern. Die Gaskammern habe ich bislang nicht erwähnt, aber dass die Nazis millionenfach jüdische Menschen ermordeten, das wissen die Kinder. Sie wissen, dass Nazis ein Problem mit Menschen haben, die «anders» sind: Migranten, Juden, Muslime, LGBTQ+, Linke, Grüne, Lügenpresse …
Ich konnte meine Tochter beruhigen, habe ihr versprochen, dass wir uns keine Angst machen lassen. Sie ist dann eingeschlafen, und ich habe den ganzen Abend lang den Ergebnisticker aktualisiert. Es war beängstigend.
Jede dritte Stimme für Nazi-Partei
Mein politisches Motto lautet «Leben und leben lassen». Im besten Fall trifft man sich bei unterschiedlichen Meinungen nahe der Mitte, und wenn nicht, dann setzt mal der eine etwas mehr von seiner Idee durch, mal der andere. Am Ende geht sich das alles aus. Was aber ist, wenn eine ganze Partei ein Problem mit dem «Leben lassen» hat?
Als ich heute früh aufgewacht bin, hatte ich Gewissheit, dass die AfD bei der Europawahl in Sachsen stärkste Kraft geworden ist. Überrascht hat mich das nicht, aber gleichwohl erschüttert. Fast ein Drittel der Wähler und Wählerinnen (31,8 Prozent) haben der AfD ihre Stimme gegeben, die zweitplatzierte CDU kam auf 21,8 Prozent. Dunkelrot, rot und grün landeten abgeschlagen dahinter, die FDP spielt keine Rolle.
Ungefähr jeder Dritte hat also eine Partei gewählt, die in Sachsen «gesichert rechtsextrem» ist. So stufen die Verfassungsschützer in Deutschland Parteien mit verfassungsfeindlicher Programmatik ein. Parteien, die inhaltlich gegen die im Grundgesetz verankerte Garantie der Menschenwürde arbeiten. Parteien, die typische völkisch-nationalistische und gängige antisemitische, zumeist verschwörungsideologische Positionen vertreten. Parteien, die Probleme mit Menschen haben, die «anders» sind.
Die AfD hat in jedem Wahlkreis in Sachsen die meisten Stimmen geholt. Selbst in Leipzig: bei den letzten Wahlen noch einige der wenigen nicht-braunen Enklaven im Bundesland. Selbst hier sind die Nazis bei der Europawahl stärkste Kraft geworden.
Die nächsten Wahlen werden noch schlimmer
Wenn man sich die Karte mit den Wahlergebnissen anschaut, dann kann man genau sehen, wo Deutschland einst geteilt war. Die ehemalige DDR ist hellblau wie ein Trabi – und fest in AfD-Hand.
Wie gesagt, ich bin nicht überrascht. Aber ich frage mich natürlich, warum die AfD gerade im Osten Deutschlands als quasi alternativlos wahrgenommen wird? Warum Nazi-Parolen hier stärker verfangen, als in anderen Teilen Deutschlands (die AfD hat bundesweit 15,9 Prozent der Stimmen geholt)? Man kann nichts beschönigen, was nach der Wiedervereinigung 1990 alles falsch lief. Aber reicht das, zusammen mit einer nicht wirklich nachvollziehbaren Verklärung der DDR-Realität, um den Hass, die Wut, den Extremismus zu rechtfertigen?
Im Herbst sind wieder Wahlen in Sachsen (und in zwei weiteren ostdeutschen Bundesländern): Dann wird ein neuer Landtag gewählt. Sollten sich die Ergebnisse von der Europawahl bestätigen, wird eine Regierung ohne Nazi-Beteiligung in irgendeiner Art nicht möglich sein.
Bald wieder in Erklärungszwang
Hass auf Migranten, Verachtung für Europa, und «die da oben» sind sowieso an allem schuld: Wohin das alles genau führt? Dazu hält sich die AfD noch bedeckt. Das Wahlprogramm wurde zwar schon vor zwei Wochen verabschiedet, aber Journalisten dürfen es bislang nicht lesen.
Ich habe aber nur noch ein paar Wochen Zeit, um mir zu überlegen, wie ich das alles dann meiner Tochter erkläre.