Landesweite Proteste  Lage im Iran spitzt sich weiter zu

dpa

8.12.2022 - 00:00

Proteste in Teheran.
Proteste in Teheran.
Bild: Uncredited/AP/dpa

Erneut folgen zahlreiche Menschen im Iran den landesweiten Protestaufrufen. Besonders angespannt ist die Lage in der Kurdenregion. In Teheran sorgt eine Warnmeldung für Verwirrung.

Zahlreiche Ladenbesitzer im Iran haben am dritten Tag in Folge ihre Geschäfte aus Protest nicht geöffnet. Das berichteten unter anderem Bewohner der Provinz Kurdistan am Mittwoch. Der Staat hat in der Region schon ein massives Aufgebot von Sicherheitskräften zusammengezogen. Auch gepanzerte Fahrzeuge sollen in den Kasernen stationiert worden sein.

In der Hauptstadt Teheran gingen Sicherheitskräfte Augenzeugen zufolge erneut mit Gewalt gegen Studierende vor. Bei den Studentenprotesten wurden einige Menschen verletzt und weitere festgenommen, wie Augenzeugen von der Amirkabir-Universität für Technologie berichteten. Videos in den sozialen Medien zeigten Proteste auch in anderen Teilen der Hauptstadt. Polizei, Milizen und Sicherheitskräfte waren mit einem massiven Aufgebot auf den Strassen. Trotz kaltem Winterwetter folgten vielerorts junge Frauen und Männer den landesweiten Aufrufen zu Protesten.

Wieder Proteste im Iran

Wieder Proteste im Iran

Im Iran dauern die Proteste gegen die politische Führung an. Auch am Mittwoch wurden in sozialen Netzwerken Videos von Demonstrationen an verschiedenen Hochschulen im Land veröffentlicht.

07.12.2022

Für Verwirrung sorgte eine Erdbebenwarnung am Nachmittag. Die mutmasslich durch einen Hackerangriff ausgelöste Warnung forderte alle Empfänger auf, ihre Häuser zu verlassen. Von Behördenseite wurde später ein Hackerangriff dementiert, es soll sich um einen fehlgeschlagenen Warntest gehandelt haben.

Studierende boykottieren Vorlesungen

Studierende haben am Mittwoch erneut landesweit demonstriert und ihre Vorlesungen boykottiert. «Habt Angst, habt Angst, wir sind alle zusammen», riefen sie an der Technologie-Universität Amirkabir in der Hauptstadt Teheran, wie aus einem Video des Onlinekanals 1500tasvir hervorging.

Jugendgruppen hatten zu Demonstrationen am jährlichen «Tages des Studenten» am 7. Dezember aufgerufen, der an drei im Jahr 1953 von Sicherheitskräften des Schahs getötete Studenten erinnert. Die Protestierenden sollten den Mittwoch in einen «Tag des Terrors für den Staat» verwandeln.

Präsident Ebrahim Raisi zeigte sich bei einem Treffen mit systemtreuen Studenten dagegen kämpferisch. Er erneuerte seine Behauptung, dass die USA die Proteste anheizten und den Iran zerstören wollten. Beobachter sehen darin jedoch ein Manöver, um von den eigentlichen Ursachen der Proteste abzulenken.

Am Dienstag war Irans Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei mit dem Obersten Rat der Kulturrevolution zusammengekommen. Bei dem Treffen mit Raisi, Parlamentspräsident Bagher Ghalibaf und Justizchef Gholam-Hussein Mohseni-Edschehi soll es Berichten zufolge um eine mögliche Entscheidung über die Zukunft der Sittenpolizei gegangen sein.

Chatami kritisiert Unterdrückung von Protesten

Nach Einschätzung von Experten könnte der Kopftuchzwang auch bei einer Abschaffung der berüchtigten Einheit weiter verfolgt werden, etwa durch Videoüberwachung.

Der frühere iranische Präsident Mohammed Chatami warnte die Führung des Landes vor einer weiteren Unterdrückung der Proteste. «Man sollte Sicherheit nicht als Vorwand nehmen, um Freiheit zu unterdrücken», wurde der islamische Geistliche von der Tageszeitung «Shargh» zitiert. Chatami mahnte, die Forderungen ernst zu nehmen. Die Protestbewegung fordere mit dem «schönen Slogan: Frau, Leben, Freiheit» eine bessere Zukunft. Die Politik sollte ihr die Hand reichen, «bevor es zu spät ist». Chatami war Präsident zwischen 1997 und 2005.

Aber auch Chatami wird insbesondere von jungen Anhängerinnen der Protestbewegung als «Mann des Systems» abgelehnt. Der Ex-Präsident befürwortet als islamischer Kleriker den Kopftuchzwang. Mitte November hatte er Forderungen nach einem politischen Systemwandel zurückgewiesen.

Beobachtern zufolge könnte Chatami jedoch eine wichtige Vermittlerrolle in der festgefahrenen politischen Situation einnehmen. Ein Grossteil der Demonstranten hält Reformen aber für unmöglich und fordert einen Machtwechsel.

Auslöser der Proteste Mitte September war der Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini. Sie starb im Polizeigewahrsam, nachdem sie wegen angeblichen Verstosses gegen die islamischen Kleidungsvorschriften verhaftet worden war. Nach Einschätzungen von Menschenrechtlern wurden seither mindestens 470 Demonstranten getötet und rund 18’000 Menschen verhaftet.