Schlacht um Cherson Selenskyj hat aus Putins Fehlern gelernt

Von Philipp Dahm

30.8.2022

Selenskyj fordert russische Soldaten zur Flucht auf

Selenskyj fordert russische Soldaten zur Flucht auf

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat in seiner täglichen Videoansprache die russischen Soldaten in der Ukraine zur Flucht in ihre Heimat aufgefordert.

30.08.2022

Über den Verlauf der ukrainischen Offensive in Cherson ist bisher wenig bekannt: Kiew verhängt eine Nachrichtensperre. Fakt ist, dass russische Truppen eingekesselt sind – und die Zivilbevölkerung leidet.

Von Philipp Dahm

Bisher sind die Ukrainer*innen auf Social Media sehr aktiv. Und auch heute finden sich Posts, die für die Moral bestimmt sind. So wie diese Bilder:

«Das Foto zeigt, wofür wir kämpfen», schreibt Reddit-User Knukles123. Es zeigt relativ grosse ukrainische Soldaten an einem unbekannten Ort mit einer relativ kleinen alten Frau ...
«Das Foto zeigt, wofür wir kämpfen», schreibt Reddit-User Knukles123. Es zeigt relativ grosse ukrainische Soldaten an einem unbekannten Ort mit einer relativ kleinen alten Frau ...
u/Early_Presentation93
...  und mit Kindern, in deren Täschchen offenbar Care-Pakete aus Israel stecken.
...  und mit Kindern, in deren Täschchen offenbar Care-Pakete aus Israel stecken.
u/Early_Presentation93

Doch wenn es um Nachrichten von Kiews Offensive im Oblast Cherson geht, ist es online erstaunlich ruhig. Das hat einen guten Grund: Die Streitkräfte haben von den Fehlern des Feindes gelernt, der durch Bilder im Internet, die Zivilisten wie Soldaten gemacht haben, die Position der eigenen Stellungen preisgegeben haben.

Kiews Militärs haben den Streitkräften deshalb einen Maulkorb verpasst: Video, Fotos oder Informationen zur Offensive in Cherson sind verboten. So bleiben nicht nur Moskaus Truppen im Dunkeln, sondern auch die internationalen Beobachter.

Der britische Auslandsgeheimdienst MI6 bestätigt zwar verstärktes Artilleriefeuer in der Region, kann aber angeblich «das Ausmass der ukrainischen Vorstösse» nicht genauer beziffern. Auch das US-Aussenministerium wollte von keinen Details wissen.

Was die russische Seite sagt

Und so bleiben zur Einordnung nur die offiziellen Verlautbarungen der Kriegsparteien. Das russische Verteidigungsministerium gibt am Abend des 29. August auf einem Telegram-Kanal in knappen Worten bekannt, der Feind habe versucht, bei Cherson und Mikolajiw in die Offensive zu gehen und habe dabei «schwere Verluste» erlitten.

Auf diesem Bild, das vom russischen Verteidigungsministerium am 29. August herausgegeben worden ist, feuert ein russischer Soldat an unbekanntem Ort eine Panzerabwehr-Rakete vom Typ Kornet ab.
Auf diesem Bild, das vom russischen Verteidigungsministerium am 29. August herausgegeben worden ist, feuert ein russischer Soldat an unbekanntem Ort eine Panzerabwehr-Rakete vom Typ Kornet ab.
EPA

Moskaus Einheiten hätten 26 Panzer, 32 gepanzerte Fahrzeuge und zwei Su-25-Erdkampfflugzeuge zerstört und über 560 Soldaten ausgeschaltet. «Ein weiterer Angriffsversuch des Gegners scheiterte kläglich», lautet der letzte Satz des Rapports. Laut dem Verwaltungschef der Krim ist die Offensive hingegen gar kein echter Vorstoss: Für Sergej Aksjonow ist sie bloss «wie üblich ein Fake der ukrainischen Propaganda».

Der russische Nationalist und frühere separatistische Feldkommandeur Igor Girkin bestätigte auf Telegram die Angriffe. Sie seien bislang aber nur als Demonstration gedacht, die Ukraine setze ihre Hauptkräfte noch nicht ein. Am Morgen des 30. August habe es erneut schwere Raketenangriffe auf die russischen Stellungen gegeben, so Girkin.

Was die ukrainische Seite sagt

Wolodymr Selenskyj zeigt sich in seiner jüngsten Video-Ansprache kämpferisch. Die Öffentlichkeit werde keine Einzelheiten erfahren, sagt der ukrainische Präsident. «Denn wir sind im Krieg, und so läuft es nun mal. Aber die Besatzer sollen wissen, dass wir sie bis zu unserer Grenze treiben werden.»

Wohl nicht von Ungefähr fordert Selenskyj die russischen Soldaten auf, zu desertieren oder sich zu ergeben. «Wir garantieren die Einhaltung aller Normen und der Genfer Konvention.» Die miese Moral des Gegners ist ein Schwachpunkt der Kreml-Truppem: Während die Ukrainer*innen ihr Land verteidigen, scheint die Bereitschaft der russischen Truppen nicht sehr hoch zu sein, für diese Kampagne ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Der US-Sender CNBC will dann auch aus dem Umfeld des ukrainischen Militärs erfahren haben, dass sich die russischen Besatzer in Cherson aus einigen Positionen zurückziehen. Ein ähnliches Bild zeichnet eine Twitter-Userin, die von Freunden aus Cherson erfahren haben will, dass sich Russen im grossen Stil ergeben oder türmen.

Russische Truppen offenbar eingekesselt

Diese Angaben lassen sich ebenso wenig überprüfen wie die Erfolgsmeldungen aus Moskau. Fakt ist, dass der Kreml noch möglichst viele Truppen nach Cherson verschob, solange die nur noch hauchdünnen Nachschubwege dies noch zugelassen haben. 

Nun sollen um die 25'000 Soldaten auf jenseits des Dnjepr in Cherson eingeschlossen sein. Russland hat bestätigt, dass Fluss-Übergänge bei Antoniwka und Nowa Kachowska beschossen worden sind. Explosionen wurden auch aus Cherson selbst und der ebenfalls russisch besetzten Stadt Melitopol gemeldet.

Das US-Magazin «Politico» hat sich aus anonymen Pentagon-Quellen bestätigen lassen, dass Himars-Raketenwerfer die «meisten» Brücken über den Dnjepr zerstört hätten. Den Fluss nun noch zu überqueren, sei «sehr schwer» und die ukrainische Armee habe eine «gute Chance», in Cherson Boden gutzumachen.

Kleine Einblicke in einen trostlosen Kriegsverlauf

John Kirby, Sprecher des amerikanischen Sicherheitsrates, gibt zudem zu bedenken, dass die zugeführten russischen Truppen von der Schlacht im Donbass erschöpft seien.

Moskau versucht sich in dieser Situation mit schweren Artillerie- und Luftangriffen zu wehren: Die Region Cherson werde permanent bombardiert, ist der Tenor eines aktuellen Videos eines kanadischen Youtubers, der eigentlich Reiseberichte macht. Er hat sich heute an die Front fahren lassen und gibt so einen kleinen Einblick in die Lage am Boden.

Dasselbe gilt für den britischen TV-Sender Sky News, dessen Reporterin daran erinnert, dass die Frontlinie lang ist: Wenn die Ukraine an einem Punkt vorstösst, gerät sie anderswo unter Druck. So wie in der Gegend von Saporischschja, wo das Team Bewohner*innen interviewt.

Die völlig verstörten und verängstigten Menschen fürchten das russische Militär wie auch eine atomare Katastrophe. Familien campieren in Autos im Freien, um dem permanenten Artilleriebeschuss zu entgehen und flüchten zu können, falls das Atomkraftwerk auf der anderen Dnjepr-Seite explodiert.

Mit Material von dpa.