Seit Wochen fragt sich die Welt, wann die Offensive auf Cherson beginnt, von der Wolodymyr Selenskyj spricht. Nachdem die ukrainische Armee das Feld vorbereitet hat, rückt sie nun auf die Grossstadt vor.
Die ukrainischen Streitkräfte haben ihre lange angekündigte Offensive auf die Stadt Cherson gestartet. «Es ist offiziell: Die Schlacht um Cherson hat begonnen», wird die Regionalregierung in Odessa zitiert.
Glaubt man den Verlautbarungen aus Kiew, macht die Armee schnell Fortschritte. Truppen, die von der Kleinstadt Kachowka auf Cherson vorrücken, treffen offenbar nicht auf Widerstand: Die russischen Besatzer fliehen angeblich vom Schlachtfeld. Der Vorstoss erfolgt von der Stadt Krywyj Rih aus, die vis-à-vis von Saporischschja liegt und die Geburtsstadt von Wolodymyr Selenskyj ist.
Die ukrainische Armee soll dabei auf das 109. Regiment der Donezk-Separatisten gestossen sein, das von russischen Fallschirmjägern unterstützt wird: Die Meldung, dass die Verteidiger das Weite gesucht haben, ist nach Berichten über die geringe Motivation der Separatisten glaubwürdig. Die erste Verteidigungslinie der russischen Besatzer sei damit durchbrochen, meldet das ukrainische Militär.
Ukraine übernimmt in Phase 3 erstmals die Initiative
Der ukrainische Präsident hat diese Offensive bereits Mitte Juli angekündigt, die die dritte Phase dieses Krieges markiert. Die erste Phase war der versuchte Angriff auf Kiew, bei dem die Initiative von Russland ausging. Die Nachschub-Lage war dabei nicht gut – und Russland hat diese erste Phase klar verloren.
Die zweite Phase war durch die Schlacht um den Donbass geprägt, die wiederum von Russland initiiert worden war. Hier hat der Nachschub wegen deutlich kürzerer Wege sehr viel besser funktioniert: Der Kreml hat die Verteidiger durch heftigste Artillerie-Angriffe in die Knie gezwungen und Russland einen taktischen Sieg beschert.
Die nun angebrochene dritte Phase des Krieges unterscheidet sich von ihren Vorgängern. Nun ist es die Ukraine, die die Initiative übernimmt und den Russen aufzwingt, wann und wo sie zu kämpfen haben. Die Offensive ist von langer Hand vorbereitet: Kiews Soldaten haben auf der Krim und in Cherson systematisch Nachschublinien unterbrochen, Waffen-Depots angegriffen und Basen der russischen Armee ins Visier genommen.
Offensive folgt «beschleunigten Abnützungskrieg»
Es wird sich nun zeigen müssen, ob es den Ukrainer*innen gelungen ist, den Nachschub nachhaltig zu stören, und ob es um die Moral der russischen Truppe wirklich so schlecht bestellt ist wie kolportiert. Und während russische Quellen die ukrainische Offensive noch dementieren, bestätigen US-Offizielle CNN, dass Kiew jetzt zurückschlägt.
Wie weit die ukrainische Armee geht, ist noch nicht abzusehen. Es kann sich durchaus auch um einen begrenzten Vorstoss handeln. Muss Cherson nicht unbedingt wiedereingenommen werden? Der amerikanische Historiker Phillips O'Brien von der University of St Andrews in Schottland spricht in dem Zusammenhang von einem «beschleunigten Abnützungskrieg».
Seine Lesart: Kiew kann sich darauf verlegen, möglichst aus der Ferne möglichst viel Schaden anzurichten. In den drei Wochen nach seinem Tweet ist diese Vorhersage aufgegangen: Ein konzertierter Angriff kombinierter Truppen war bisher offenbar nicht möglich. Wie die neue Offensive nahelegt, sind diese Zeiten nun aber vorbei.