Abtreibungsverbot in Texas «Früher oder später wird deswegen jemand sterben»

Von Jan-Niklas Jäger

9.3.2023

Anna Zargarian und Lauren Miller gehören zu einer Gruppe von Frauen, die den Staat Texas verklagt haben, weil seine strikten Abtreibungsgesetze ihre Gesundheit gefährdet haben.
Anna Zargarian und Lauren Miller gehören zu einer Gruppe von Frauen, die den Staat Texas verklagt haben, weil seine strikten Abtreibungsgesetze ihre Gesundheit gefährdet haben.
Bild: Sarah Diggins/Imago/USA Today Network

Abtreibungen sind in Texas nahezu ausnahmslos verboten. Fünf Frauen, die deswegen mit lebensbedrohlichen Komplikationen zu kämpfen hatten, verklagen nun den Bundesstaat.

Von Jan-Niklas Jäger

Fast 50 Jahre lang war das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche in den USA durch das Roe v. Wade-Urteil des Obersten Gerichtshofs verfassungsrechtlich geschützt. Am 24. Juni 2022 machte der aus einer Mehrheit konservativer Richter*innen bestehende Gerichtshof das Urteil rückgängig.

Eines der liberalsten Abtreibungsgesetze der Welt wurde gekippt, die einzelnen Staaten mussten sich an keine Richtlinien des Bundes mehr halten.

Sonderfall Texas

Manche Staaten verschärften daraufhin ihre Abtreibungsgesetze, andere waren der Entscheidung des Gerichtshofs zuvorgekommen und hatten in der Hoffnung, dass Roe v. Wade eines Tages fallen würde, bereits strikte Gesetze verabschiedet.

Ein besonderer Fall ist Texas, das in die zweite Kategorie fiel. Doch der Staat ganz im Süden der USA hat bereits 2021 den «Texas Heartbeat Act» verabschiedet, ein Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche verbietet, sobald ein Herzschlag des Fötus nachweisbar ist, also nach etwa sechs Wochen.

Der «Texas Heartbeat Act» schrieb Geschichte als erstes Gesetz seit Roe v. Wade, das de facto Abtreibungen ab der sechsten Schwangerschaftswoche unter Strafe stellt. Das liegt daran, dass es ausschliesslich durch Zivilklagen durchgesetzt wird – der Staat selbst kann niemanden wegen einer Abtreibung einem Richter fortführen.

Wer Ärzt*innen anzeigt, wird belohnt

Privatpersonen hingegen können das. Durch das Gesetz erhält jedes Mitglied der Öffentlichkeit das Recht, jemanden, der eine Abtreibung nach der Herzschlagmarke durchgeführt hat, zu verklagen. Gibt es eine Verurteilung, kann die klagende Person eine Zahlung von 10'000 Dollar beantragen. Die Biden-Regierung bezeichnete das Geld als «Belohnung».

Die Aufhebung von Roe v. Wade hat diese Regelung zusätzlich verschärft. Zusätzlich zu den Privatklagen kann der Staat nun gegen fast jeden vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch vorgehen.

Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, drohen der Verlust ihrer Lizenz, eine Strafzahlung von mindestens 100'000 Dollar und eine Gefängnisstrafe von bis zu 99 Jahren. Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen in Fällen, in denen das Leben der Schwangeren durch den Eingriff gerettet werden kann.

Medizinisches Dilemma

Nun wurden zwei Klagen gegen den texanischen Staat und seine kompromisslose Politik eingereicht. Zum einen klagen die Ärztinnen Damla Karsan und Judy Levison gegen den drakonischen Strafenkatalog. Unter diesem sei es, wie es in der Klageschrift heisst, «kein Wunder, dass Ärzt*innen und Spitäler Patientinnen abweisen – selbst bei medizinischen Notfällen».

Die Ärzt*innen sehen sich mit einem Dilemma konfrontiert. Schliesslich haben sie die Pflicht, Menschen bei drohenden medizinischen Komplikationen Hilfe zu leisten. Doch in Texas könnte eine solche Hilfeleistung in vielen Fällen im Gefängnis enden.

Eine Frage der Menschenrechte

Die zweite Klage stammt von fünf Frauen, denen in Texas Abtreibungen verwehrt worden waren. «Nur weil Roe v. Wade nicht mehr länger das Gesetz dieses Landes ist», sagte die Anwältin Molly Duane dem Radiosender NPR, «heisst das nicht, dass Frauen und schwangere Personen keine verfassungsmässigen und grundlegenden Menschenrechte haben.» Duane repräsentiert sowohl die fünf Frauen als auch die Ärztinnen in ihren Klagen.

Eine der Klägerinnen ist Anna Zargarian, die NPR ihre Geschichte schon im vergangenen Jahr anvertraut hatte – als Roe v. Wade noch gültig war, aber der «Heartbeat Act» bereits galt.

Zargarian war erst 19 Wochen schwanger, als ihre Fruchtblase platzte – an ihrem Hochzeitstag. Statt vor dem Altar fand sie sich in der Notfallaufnahme wieder. Dort erfuhr sie, dass das Baby unterentwickelt war und die Geburt im besten Fall eine kurze Zeit überleben würde.

Tabuwort «Abtreibung»

Ausserdem gebe es ein erhöhtes Risiko, dass sie verbluten oder vereitern könnte – ihr Leben war in Gefahr. Ihr wurde ein Abbruch empfohlen – doch auf die Empfehlung folgte der Hinweis, dass ein solcher in Texas nicht durchgeführt werden darf.

Trotz des Risikos war die Gefahr für Zargarians Leben nach texanischem Recht nicht gross genug, um den Eingriff zu rechtfertigen. «Sie konnten nicht einmal das Wort ‹Abtreibung› aussprechen», so Zargarian. «Ich konnte die Furcht in ihren Augen sehen, aber sie hatten zu grosse Angst, auch nur darüber zu sprechen.»

Stattdessen hätten die Ärzt*innen Sätze auf ihren Smartphones getippt und diese Zargarian und ihrem Ehemann gezeigt: Sie hatten Angst, dass jemand zuhören und sie wegen der Planung einer Abtreibung anzeigen könnte.

Flucht nach Colorado

Also flog Zargarian – wohlwissend, dass sie jeden Moment in den Wehen liegen könnte – in den nordwestlich von Texas gelegenen Staat Colorado. Hier sind Schwangerschaftsabbrüche weiterhin legal: Der demokratische Gouverneur Jared Polis hat bereits im April 2022 ein Gesetz unterzeichnet, das die Einschränkung des Rechts auf Abtreibung unterbindet.

Den Weg nach Colorado hat auch Lauren Miller auf sich genommen, eine weitere der fünf Klägerinnen. Miller erfuhr im vergangenen Herbst, als sie sich in der 13. Woche ihrer Schwangerschaft befand, dass einer der beiden Zwillinge in ihrem Bauch Trisomie 18 hatte. Die genetische Abnormalität führt in neun von zehn Fällen zum Tod des Fötus noch vor der Geburt.

Da auch für den zweiten Zwilling eine erhöhte Gefahr bestand, reiste Miller nach Colorado, um eine selektive Abtreibung vornehmen zu lassen. Nachdem sie nach Texas zurückgekehrt war, fürchtete sie sich vor gerichtlichen Folgen, wenn der Eingriff in Untersuchungen festgestellt würde.

«Früher oder später wird jemand deswegen sterben»

Miller bestätigt Zargarians Schilderungen einer von Angst geprägten Atmosphäre unter dem medizinischen Personal: Auch in ihrem Fall habe kein Arzt in Texas das Wort «Abtreibung» in den Mund genommen, berichtet sie ebenfalls NPR.

Diese Atmosphäre hängt auch damit zusammen, dass es schwer ist, eindeutig zu sagen, wann die Lebensgefahr einer Schwangeren als akut genug gilt, um einen legalen Schwangerschaftsabbruch zu gewährleisten. Wegen der drohenden Strafen entscheiden sich Ärzt*innen im Zweifelsfall dagegen – und die Zweifel sind gross.

Laut Molly Duane ist das Ziel der Klage, Klarheit zu schaffen: Es brauche klare Richtlinien für Ärzt*innen, deren schwangere Patientinnen vor schwerwiegenden medizinischen Komplikationen stehen. «Es ist wichtig, darüber zu reden», hatte Anna Zargarian bereits bei der Schilderung ihres Falls betont.

«Denn früher oder später wird irgendjemand deswegen sterben.»