Abtreibungsurteil Kippen die Richter als Nächstes Verhütung und Ehe für alle?

Von Philipp Dahm

27.6.2022

Genugtuung und Entsetzen nach Abtreibungsurteil in den USA

Genugtuung und Entsetzen nach Abtreibungsurteil in den USA

In den USA haben bereits etliche Bundesstaaten das Recht auf Abtreibungen verboten. Das Land ist tief gespalten. Während die einen «den historischen Sieg» feiern und überzeugt sind, «Millionen Kindern das Leben zu retten», sind andere entsetzt und schockiert. Sie berfürchten «auf noch radikalere Zeiten zuzusteuern».

27.06.2022

Das Vertrauen ins Oberste Gericht ist historisch tief: Das Abtreibungsurteil in den USA erhöht den Druck auf Präsident Biden, denn dieser könnte etwas tun. Die Richter haben derweil bereits die nächsten Themen im Blick.

Von Philipp Dahm

27.6.2022

Als der Oberste Gerichtshof der USA am Donnerstag das verdeckte Tragen von Waffen in New York ausdrücklich erlaubt, schlägt das im linken Lager bereits hohe Wellen. Doch was einen Tag später kommt, löst einen Tsunami aus.

Die Bundesrichter haben Roe v Wade, also das Recht auf Abtreibung, für unrechtmässig erklärt: Die Bundesstaaten können nun selbst in der Sache entscheiden. Wohl nicht von ungefähr ergeht das Urteil an einem Freitag, wenn das Wochenende Menschen und Medien halbwegs fest im Griff hat. Dabei ist es eine Zäsur mit Ansage, nachdem das Vorhaben bereits Anfang Mai öffentlich geworden war.

Wie die Amerikanerinnen und Amerikaner sowie die verschiedenen Parteien das Urteil aufnehmen, wie es angefochten werden kann, was die Konsequenzen sind und welche Themen das Oberste Gericht als Nächstes angehen könnte, liest du hier nach.

Medien-Reaktionen

Von der politischen Rechten kommt Zustimmung: «Roe v Wade ist Vergangenheit. Endlich», kommentiert Fox News den Fall. Das Urteil korrigiere «die ungeheuerlichste juristische Verzerrung der Verfassung», heisst es. Tucker Carlson, der Frontmann des Senders, legt nach: «[Roe v Wade] war Gift.» Denn: Nun könnten die Wählenden mit ihrer Stimme selbst in ihren Bundesstaaten über das Thema entscheiden.

Ganz anders dagegen die Linke: «Das Oberste Gericht erklärt dem modernen Amerika den Krieg», titelt die «Washington Post». Die «Los Angeles Times» schreibt: «Eine schreckliche, fürchterliche, ungute, sehr schlechte Entscheidung des Obersten Gerichts.» Die «New York Times» fragt bange: «Wie wird das Oberste Gericht die amerikanische Gesellschaft wohl als Nächstes ändern?»

Das sagt die Bevölkerung

Laut einer CBS-Umfrage sind 59 Prozent der Teilnehmenden gegen das Urteil. Bei den Frauen sind es sogar 67 Prozent. Je nach politischer Ausrichtung sind die Unterschiede gross: Demokratische Wähler lehnen das Verdikt zu 83 Prozent ab, bei den Republikanern sind es nur 22 Prozent.

Das Oberste Gericht hat inzwischen auch ein Legitimitätsproblem – denn nur noch ein Viertel der Amerikaner*innen ist mit der Arbeit der Juristen zufrieden. So wenig waren es noch nie. 25 Prozent haben «sehr viel» oder «recht viel» Vertrauen in die Institution, nachdem es im Vorjahr noch 36 Prozent waren, zeigt eine Gallup-Umfrage. 1973, als Roe v Wade behandelt wurde, waren es noch 45 Prozent.

Amtsenthebungsverfahren für Richter?

Für das Urteil sind die sechs konservativen und katholischen Richter verantwortlich: John Roberts, Samuel Alito und Clarence Thomas sitzen bereits auf ihren Posten, als Donald Trump 2016 die Wahl gewinnt. Der Ex-Präsident kann in seiner Amtszeit drei weitere benennen: Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett.

Ein Urteil erregt eine Nation: Polizist gegen Demonstrantin am 25. Juni in Los Angeles.
Ein Urteil erregt eine Nation: Polizist gegen Demonstrantin am 25. Juni in Los Angeles.
AP

Das liegt zum einen daran, dass die Republikaner 2017 die Spielregeln ändern – und seither nur noch eine einfache Mehrheit ausreicht, um die Richter zu bestätigen. Bei genau diesen Anhörungen will nun Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) ansetzen: Die junge New Yorker Demokratin will ein Amtsenthebungsverfahren gegen das letztgenannte Trio anstrengen.

Der Grund: Vor allem Kavanaugh und Coney Barrett sind bei den Anhörungen zu ihrer Bestätigung nach Roe v Wade befragt worden – und haben nicht durchblicken lassen, dass sie das Abtreibungsrecht kippen wollen. «Ich glaube, unter Eid zu lügen, ist eine Tat, die eine Amtsenthebung erlaubt.» Richter Clarance Thomas habe ausserdem Geld politischer Organisationen kassiert, ohne diese zu deklarieren.

Clarance Thomas ist pikanterweise der Ehemann von Ginni Thomas, die eine unrühmliche Rolle während des Kapitol-Sturms am 6. Januar 2021 gespielt hat, als sie dazu aufforderte, alternative Wahlleute in republikanischen Staaten aufzustellen.

Zahl der Richter aufstocken?

Roe v Wade wurde mit sechs zu drei Stimmen gekippt – und nun fordern einige demokratische Stimmen erneut, mehr Richter zu ernennen. Die Logik dahinter: Wenn Präsident Joe Biden die Zahl der Richter zum Beispiel auf 13 erhöhte, könnte er vier neue Richter berufen, sodass sechs Konservative sieben Progressiven gegenüberstehen würden.

Das wäre ohne Weiteres möglich, denn auch wenn seit 150 Jahren neun Richter diesen Job erfüllen, ist die Anzahl nicht in Stein gemeisselt. Das Problem: Joe Biden will davon nichts wissen. «Das ist etwas, dem der Präsident nicht zustimmt», bestätigte seine Sprecherin Karine Jean-Pierre erst am 25. Juni wieder und verweist auf eine Kommission, die eine Reform des Obersten Gerichts diskutiere. Mehr sagt sie zum Thema nicht.

Erst der Anfang?

Liberale befürchten nach dem Urteil das Schlimmste für die Zukunft, denn mit seinem Verdikt drängen die sechs katholischen Richter der Mehrheit ihre Moralvorstellungen auf, so die Kritiker.

Doch das Ganze könnte erst der Anfang sein: Richter Clarence Thomas hat bereits angekündigt, nach der Abtreibung andere Themen angehen zu wollen, an denen sich Religiöse stossen. Da wäre einerseits die Ehe für alle (Obergefell v Hodges), doch auch der Aspekt Verhütung könnte das Gericht bald beschäftigen (Griswold v Connecticut).