Symbolische und strategische Niederlage Verlust von Wuhledar zeugt von ukrainischem Kriegsdilemma

AP, dmu

4.10.2024 - 04:30

Ein ukrainischer Marinesoldat geht in Wuhledar an zerstörten Wohnblocks vorbei.
Ein ukrainischer Marinesoldat geht in Wuhledar an zerstörten Wohnblocks vorbei.
Bild: Keystone/AP/Evgeniy Maloletka

Nach erbitterten Kämpfen fällt die Verteidigungsbastion Wuhledar an die Russen. Am Ende hatten die Ukrainer dem Feind nichts mehr entgegenzusetzen – auch weil eine Zusage aus Washington nicht kam.

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  • Mit dem Verlust von Wuhledar hat die Ukraine eine strategisch wichtige Position in Donezk.
  • Russische Truppen haben die Stadt nach intensiven Luftangriffen und Bodenoffensiven eingenommen, während die ukrainischen Verteidiger aufgrund fehlender Ressourcen aufgeben mussten.
  • Der Verlust gilt nicht als kriegsentscheidend, jedoch könnten weitere Rückschläge wie der Fall von Pokrowsk schwerwiegende Auswirkungen auf die ukrainische Kriegslogistik haben.

Mit dem Rückzug aus Wuhledar hat das ukrainische Militär eine wichtige Bastion an der Front in Donezk verloren. Kriegsentscheidend dürfte das nicht sein, aber es macht deutlich, dass die Regierung in Kiew vor dem nächsten Kriegswinter militärisch geschwächt dasteht. Experten und Beobachter machen dafür auch die westlichen Partner der Ukraine verantwortlich.

Über den Sommer musste die Ukraine an der östlichen Front bereits Tausende Quadratkilometer Territorium an Russland abgeben. Am Mittwoch bestätigte sie auch den Verlust von Wuhledar. Nach mehr als zwei Jahren erbitterteter Verteidigungsschlacht ist die Niederlage symbolisch, aber auch strategisch besonders bitter.

Aus der Luft hatten russische Kampfjets zuletzt immer wieder verheerende Gleitbomben auf die belagerte Stadt abgeworfen, ohne dass die ukrainischen Soldaten dem wirklich etwas entgegenzusetzen hatten. Zu gerne würde die Ukraine, um Moskau solche Angriffe zu erschweren, mit Raketen aus US-Produktion vom Typ ATACMS Luftwaffenstützpunkte tief im Inneren Russlands angreifen. Aber dafür bekommt Kiew kein grünes Licht aus Washington, das dann eine weitere Eskalation des Kremls befürchtet.

«Weil wir nicht so viel haben wie sie»

Die Russen hätten in den vergangenen sechs bis sieben Monaten Wuhledar vermehrt von Norden und Süden her in die Zange genommen und dabei gleichzeitig ohne Unterlass aus der Luft angegriffen, sagte Arsenij Prylipka, Pressesprecher der 72. Brigade, die seit August 2022 Wuhledar verteidigte. Nach Angriffen mit Hilfe elektronischer Kriegsführung, Artilleriegeschützen, Drohnen, den Gleitbomben und zahlreichen Soldaten seien den Verteidigern schlicht die Ressourcen ausgegangen. «Weil wir nicht so viel haben wie sie», sagte Prylipka.

Vor dem Krieg lebten in Wuhledar 14 000 Menschen. Kaum einer ist unter dem stetigen Beschuss der Russen geblieben. Prylipka hatte betont, seine Brigade würde die Stadt erst dann verlassen, wenn es nicht mehr anders möglich sei. Nun ist es soweit.

Nie waren er und seine Kameraden in den vergangenen Jahren abgelöst worden, weil die heftigen Kämpfe das einfach nicht zuliessen. Viele ihrer Kampfgefährten liegen nun in Wuhledar begraben. Aber auch den russischen Truppen fügten sie schwere Verluste zu.

Kein entscheidender Knotenpunkt

Von der auf einem Hügel gelegenen Verteidigungsbastion konnten sie die offenen Felder und vorbeiführenden Strassen gut überblicken und anrückende Russen schnell ausmachen. Doch auf Dauer reichte das nicht. «Die Russen suchten nach Schwachstellen in unserer Verteidigung, suchten ständig nach Wegen, um in die Stadt einzudringen, und als sie vorrückten, versuchten sie, die gesamte Stadt zu zerstören», sagte Prylipka.

Jetzt hat Russland die strategisch gute Position in Wuhledar an sich gerissen. Allerdings sei die Stadt kein entscheidender logistischer Knotenpunkt für die Ukraine gewesen, erklärte die US-Denkfabrik Institute for the Study of War. Der Zugang zu Nachschubrouten bleibe intakt.

Weit wichtiger wäre für Moskau in diesem Zusammenhang eine Eroberung von Pokrowsk, nur 30 Kilometer weiter nördlich. Der Verlust dieser Stadt würde Kiews Kriegslogistik und die Verteidigungspositionen an der Front im Osten tatsächlich empfindlich treffen.

Hoffen auf Einlenken von Washington

Aber erst einmal müssten die Russen durch das nahe gelegene Kurachowe, sagte Ivan Tymotschko vom Reservistenverband der ukrainischen Armee. Nur wenn es ihnen gelänge, die ukrainischen Soldaten von dort zu vertreiben, könnten sie nach Pokrowsk weitermarschieren, ohne einen Angriff von den Seiten zu riskieren.

Auch dort dürften die Verteidiger den russischen Gleitbomben am Ende nicht mehr entgegenzusetzen zu haben als in Wuhledar – ausser es fallen in der Zwischenzeit einige der roten Linien, die die US-Regierung für Angriffe auf Ziele in Russland gezogen hat.

Selenskyj bezeichnet Lage an der Front als «sehr, sehr schwierig»

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STORY: Der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj hat die Situation an der Front als angespannt bezeichnet. Die Lage sei «sehr, sehr schwierig», sagt er am Montag in seiner abendlichen Videoansprache nach einem Treffen mit hochrangigen Kommandeuren. Dies betreffe jeden einzelnen Frontabschnitt sowie die gegenwärtigen als auch zukünftigen Kapazitäten der ukrainischen Armee. Die Streitkräfte müssten nun alles tun, was in ihrer Macht stehe. «Alles, was diesen Herbst getan werden kann, alles, was wir erreichen können, muss erreicht werden, so Selenskyj. In der vergangenen Woche hatte der scheidende US-Präsident Joe Biden acht Milliarden US-Dollar Militärhilfen für die Ukraine angekündigt. Am Dienstagmorgen meldete der Gouverneur der Region Cherson einen Luftangriff auf die gleichnamige Stadt Cherson im Süden der Ukraine. Dabei sollen auf einem Markt mindestens fünf Menschen getötet worden sein. Aufnahmedatum und -ort dieser Bilder konnten zunächst nicht unabhängig bestätigt werden. Zuletzt hatte Russland seine nächtlichen Drohnenangriffe fortgesetzt, auch auf die Hauptstadt Kiew.

02.10.2024

AP, dmu