Afghanistan vor dem KollapsDie Taliban kämpfen um internationale Anerkennung
Von Sven Hauberg
4.9.2021
Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich in Afghanistan zusehends. Gerade auch deshalb sind die Taliban auf gute Beziehungen zu anderen Ländern angewiesen. Ein heikler Balanceakt zwischen Propaganda und Diplomatie, den auch die Schweiz aufmerksam beobachtet.
Von Sven Hauberg
04.09.2021, 08:48
04.09.2021, 10:04
Sven Hauberg
Fast zwei Jahrzehnte lang waren die Taliban im Untergrund aktiv. Jahre, die die Terrorgruppe offenbar auch dazu genutzt hat, sich in puncto Kommunikation weiterzubilden. Man gibt sich neuerdings weltoffen in Kabul, spricht von Frauenrechten und einer besseren Zukunft für alle Afghanen. Das Meiste davon dürfte allerdings kaum mehr als Propaganda sein. Doch auch die Islamisten wissen, dass sie auf Hilfe von aussen angewiesen sind, um das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps zu bewahren.
Voraussetzung dafür ist aber ein gutes Verhältnis zum Ausland. Keine einfache Sache angesichts des überstürzten Abzugs der westlichen Truppen aus dem Land und der schrecklichen Szenen, die sich zuletzt am Kabuler Flughafen abgespielt haben. Die Taliban scheinen dennoch daran zu glauben, dass sich das Verhältnis zum Westen bald wieder normalisieren könnte. «Wir wollen gute Beziehungen zu den USA und der Welt. Wir wollen gute diplomatische Beziehungen zu allen», sagte Taliban-Sprecher Zabiullah Mudschahid am Dienstag während einer Rede am Kabuler Flughafen.
Und im Interview mit dem «Blick» nannte unlängst Abdul Qahar Balkhi, Mitglied der Kulturkommission der Taliban, auch explizit die Schweiz: «Wir fordern die Länder der Welt auf – einschliesslich der Schweiz –, das Selbstbestimmungsrecht des afghanischen Volkes anzuerkennen und gute diplomatische, wirtschaftliche sowie zwischenmenschliche Beziehungen zu Afghanistan zu pflegen.»
Keine Beziehungen, aber dennoch Kontakte
Gute Beziehungen sind das eine – eine diplomatische Anerkennung das andere. Im August riefen die Taliban erneut das «Islamische Emirat Afghanistan» aus, eine Theokratie, die schon bis 2001 über das Land herrschte. Damals wurde das «Emirat» von lediglich drei Staaten offiziell anerkannt: Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Nachbarland Pakistan. Die Vereinten Nationen hingegen unterhielten weiterhin diplomatische Beziehungen zum eigentlich untergegangenen Islamischen Staat Afghanistan (der in keiner Verbindung zur Terrororganisation IS steht), bis dieser von einer Übergangsregierung und 2004 schliesslich von der Islamischen Republik Afghanistan abgelöst wurde.
Dass dieselben Taliban, die bereits in der Vergangenheit international geächtet wurden, nun anerkannt werden, scheint extrem unwahrscheinlich. Die meisten Länder, darunter auch die Schweiz, haben ihre Vertretungen in Kabul geschlossen und ihr diplomatisches Personal abgezogen. Kontakt zu den Taliban haben viele Staaten dennoch, zumeist über deren Verbindungsbüro in der katarischen Hauptstadt Doha. Hier empfangen Vertreter der Islamisten ausländische Diplomaten und Journalisten und geben Interviews.
Dabei scheinen die Taliban genau zu wissen, dass auch das Ausland auf gute Beziehungen zu ihnen angewiesen ist. Schliesslich halten sich noch immer Tausende ausländische Staatsangehörige in Afghanistan auf sowie viele Ortskräfte, die das Land verlassen wollen. Nicht mit den Taliban zu sprechen, würde für viele von ihnen möglicherweise das Todesurteil bedeuten.
Gefährdete Macht
Wenn es darum geht, Menschen aus Afghanistan zu evakuieren, sind die Taliban offenbar der richtige Ansprechpartner für die USA und andere Staaten. Aber sind sie auch die Richtigen, wenn es darum geht, diplomatische Beziehungen mit dem Land aufzubauen? Schliesslich kontrolliert die Terrororganisation zwar die Hauptstadt Kabul und weite Teile Afghanistans; die Kontrolle über das Pandschir-Tal hingegen hat sie nicht. Und auch in anderen Landesteilen gibt es Widerstand, etwa im Osten Afghanistans, wo der sogenannte Islamische Staat, ein Konkurrent der Taliban um die Macht im Land, in zwei Provinzen fest verwurzelt ist.
«Das Problem der Taliban ist, dass der IS ihre Exekutivmacht schwächt, sodass sich Widerstandsgruppen etwa im Norden des Landes ermuntert fühlen könnten, gegen die Taliban vorzugehen», erklärte der Islam-Experte Reinhard Schulze von der Uni Bern unlängst im Interview mit «blue News». Heisst: Ein Ansprechpartner für das gesamte Land sind die Taliban nicht.
Dennoch sind sie derzeit diejenige politische Macht in Afghanistan, an der kein Weg vorbeiführt. Neben ihrer vollständigen diplomatischen Anerkennung , die eine Entsendung von Botschaftern zur Folge hätte, gebe es für andere Staaten noch weitere Wege, mit den Islamisten in Kontakt zu bleiben, so Markus Kaim von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik im «Spiegel».
Verschiedene Staaten, verschiedene Vorgehensweisen
Das sei einerseits die Möglichkeit, statt einer Botschaft lediglich eine Vertretung zu unterhalten, so wie dies die Schweiz etwa in Taiwan tut – ebenfalls ein Staat, der international kaum anerkannt wird. Möglich sei es auch, über Stellvertreter zu kommunizieren. So vertritt etwa die Schweizer Botschaft in Teheran die Interessen der USA, die seit 1979 keine offiziellen Beziehungen zum Iran mehr unterhalten. «Die Form, die gewählt wird, sendet ein politisches Signal», so Kaim im «Spiegel». «Alle Regierungen stehen nun vor der Aufgabe, ihre Beziehung zu Afghanistan neu zu erfinden.»
Die USA, so Aussenminister Anthony Blinken, wollen ihr Botschaftspersonal vorerst nicht nach Kabul zurückbeordern. Grossbritannien und Deutschland hingegen kündigten an, ihre diplomatischen Vertretungen wiedereröffnen zu wollen, sobald die Sicherheitslage dies zulasse. Eine Anerkennung der Taliban sei damit allerdings nicht verbunden, betonen die jeweiligen Aussenminister. China und Russland wiederum hatten ihre Botschaften auch nach der Machtübernahme der Taliban nicht geschlossen.
Am Freitag trat auch der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell vor die Medien. «Wir werden mit der neuen Regierung in Afghanistan in Dialog treten müssen», verkündete er nach dem Treffen der EU-Aussenminister in Slowenien. Man strebe nicht nur an, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit zu ermöglichen, Ziel sei es auch, eine drohende humanitäre Katastrophe zu vermeiden, so Borrell. Er sprach von einem «operativen Engagement».
Zukunft der Schweizer Vertretung in Afghanistan unklar
Auch beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) beobachtet man die Lage in Afghanistan genau. Auf Anfrage von «blue News» liess der EDA-Sprecher Pierre Alain Eltschinger in Bezug auf die seit Mitte August geschlossene Schweizer Vertretung in Afghanistan verlauten: «Es ist noch nicht absehbar, wann und unter welchen Voraussetzungen diese wiedereröffnet wird.»
Die fehlende örtliche Präsenz heisse jedoch nicht, dass sich die Schweiz nicht im Dialog mit den Menschen vor Ort befinde, betonte Eltschinger – und schloss auch die Taliban davon nicht aus: «Die Schweiz spricht grundsätzlich mit allen Seiten. Nur so kann sie ihre guten Dienste glaubwürdig anbieten.»
Der Frage, ob man auf Seiten des EDA eine mögliche Taliban-Regierung akzeptieren würde, wich der EDA-Sprecher aus: «In ihrer Praxis anerkennt die Schweiz Staaten, nicht Regierungen.» Bedeutend sei vor allem, «diplomatische Lösungen von Konflikten» anzustreben, heisst es vom EDA. Deswegen setze man weiterhin auf «offene Gesprächskanäle».