Islamismus-Experte über den IS in Afghanistan«Der Westen und die Taliban teilen dasselbe Problem»
Von Sven Hauberg
29.8.2021
Nach dem Anschlag am Flughafen von Kabul zeigt sich: Auch der IS wird in Afghanistan immer mehr zum Problem. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze von der Uni Bern erklärt im Interview, was das für das Land bedeutet.
Von Sven Hauberg
29.08.2021, 00:00
Sven Hauberg
Es gab zuletzt immer wieder Warnungen, dass Afghanistan zum Rückzugsort für Terroristen werden könnte, wenn die Taliban die Macht übernommen haben. Überrascht es Sie dennoch, dass dieser verheerende Anschlag so schnell gekommen ist?
Der Anschlag war Teil einer Serie von Aktivitäten, die der sogenannte Islamische Staat in Afghanistan durchgeführt hat. Die Geheimdienste haben darauf hingewiesen, dass der IS im Rahmen der Evakuierungsmassnahmen die Chance ergreifen würde, dort einen Anschlag zu verüben. Insofern war das nicht überraschend. Dass es so schnell ging, zeigt aber, dass der IS in Kabul offenbar über ausreichend Infrastruktur verfügt, die es ihm ermöglicht, so schnell einen solchen Anschlag durchzuführen.
Zur Person
zVg
Reinhard Schulze ist emeritierter Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie. Seit 2018 leitet er das Forum Islam und Naher Osten an der Universität Bern.
Wussten die Geheimdienste denn nichts von den Strukturen des IS in Kabul?
Viele Informationen über den IS, die die westlichen Staaten haben, beruhen auf den afghanischen Geheimdiensten. Und diese waren in den letzten Tagen und Wochen stark unter Stress. Ich kann mir vorstellen, dass die Dienste nicht unbedingt auf die Aktivitäten des IS in dessen Rückzugsgebieten in Afghanistan geblickt haben. Vielleicht hat man eine Zeitlang nicht richtig hingeguckt und entsprechend auch keine Präventionsmassnahmen ergriffen, um einen solchen Anschlag zu verhindern.
Der IS gilt als Rivale der Taliban. Worin unterscheiden sich die beiden Gruppierungen?
Zwischen den beiden Gruppen besteht mehr als nur eine Rivalität. Das ist vielmehr ein grundlegender Antagonismus. Der «Islamische Staat» sieht die Taliban als abtrünnige, ungläubige Ketzer an. Für die Taliban wiederum stellt der IS ein klassisches Terrorismusproblem dar, ein Problem, das auch der Westen mit dem IS hat. Der Westen und die Taliban teilen also dasselbe Problem – und daraus gewinnt der IS seine Stärke. Denn er kann behaupten, er sei der ursprüngliche Ort des Kampfes gegen den Westen – und damit auch gegen die Taliban.
Haben auch die Taliban den IS unterschätzt?
Das glaube ich nicht. Die Taliban haben aber wohl noch kein Instrument in Kabul, um diese Gefahr, die vom IS ausgeht, zu kontrollieren.
Werden die Taliban dieses Problem in den Griff bekommen?
Dadurch, dass der IS in zwei Provinzen in Ost-Afghanistan stark verwurzelt ist und auch gute Beziehungen zu Stammesgebieten in Pakistan hat, kann es sein, dass es die Taliban erst mal sehr schwer haben werden, diese beiden Provinzen unter Kontrolle zu bekommen. Bislang sieht es nicht danach aus, dass sie das schaffen werden. Aber sie werden dennoch versuchen, diese Konkurrenten loszuwerden. Denn der IS untergräbt die Autorität der Taliban natürlich massiv. Wenn die Taliban dann auch noch gezwungen wären, mit den USA in eine operative Koalition zu treten, dann wäre das für die sie ein gewaltiger Imageschaden.
Das klingt beinahe so, als drohe ein Bürgerkrieg zwischen IS und Taliban.
Ein Bürgerkrieg eher nicht. Der IS ist nicht stark genug und hat nur etwa 4000 bis 5000 Kämpfer unter Waffen. Die Taliban hingegen haben Elitetruppen von etwa 80'000 Mann. Von einem Bürgerkrieg kann man also nicht unbedingt sprechen, sondern eher von einer Fortsetzung der Kriegssituation in Ost-Afghanistan. Ob das zu einem Flächenbrand im Osten des Landes führen wird, weiss ich nicht. Das Problem der Taliban ist, dass der IS ihre Exekutivmacht schwächt, sodass sich Widerstandsgruppen etwa im Norden des Landes ermuntert fühlen könnten, gegen die Taliban vorzugehen. Das könnte für die Taliban zu einer Zwei-Fronten-Situation führen.
Die Biden-Regierung glaubt, sie könne den IS in Afghanistan mit Drohnen und Luftschlägen besiegen, die nicht von Afghanistan aus gesteuert werden, sondern von den Golf-Staaten. Ist das realistisch?
Das klingt nach Hybris. Die Vorstellung, von Ramstein aus Drohnenschläge in Afghanistan durchführen zu können, zeigt, wie fern die Operationseinheiten von den lokalen Bedingungen sind. Sie haben keine Ahnung davon, wie stark der IS in den östlichen Provinzen ist, wie sehr ausländische Kräfte dort beteiligt sind. All das wird falsch eingeschätzt werden. Das hat man schon im Jemen gesehen, wo der IS mit amerikanischen Drohnen vom Ausland aus bekämpft werden sollte. Das hatte aber keinen Effekt, ausser, dass hin und wieder einer der führenden Akteure des IS getötet wurde. Ohne Beteiligung von Bodentruppen lässt sich der IS auch in Afghanistan nicht wirklich schwächen.
Joe Biden hat in seiner Rede über Afghanistan gesagt: «Das Land war in seiner Geschichte nie geeint. Es besteht aus vielen unterschiedlichen Stämmen, die nie miteinander ausgekommen sind.» Hat er damit Recht?
Die Einschätzung ist ein bisschen «orientalistisch». Man stellt sich Afghanistan offenbar als Stammeskriegerland vor, wie den Balkan im 19. Jahrhundert. Das ist zu einfach gedacht. Die Definition, was Afghanistan als Nation ausmacht, ist heftig umstritten. Es ist richtig, dass es keinerlei sozialen Konsens gibt. Aber es gibt das Bestreben grosser Teile der Bevölkerung, eine solche nationale Einheit herzustellen – auch über die Grenzen, die durch Stämme oder Clans und andere Verbände gezogen werden. Die Vorstellung, Afghanistan sei ein Haufen von Stammesgesellschaften, die sich ständig gegenseitig an die Gurgel gehen, ist zu einfach gestrickt.