Krieg in der Ukraine Spuren der Folter quer durch Isjum

Von Lori Hinnant, Evgeniy Maloletka und Vasilisa Stepanenko, AP

3.10.2022 - 09:44

Gouverneur: Fast alle Toten in Isjum haben Folterspuren

Gouverneur: Fast alle Toten in Isjum haben Folterspuren

Fast alle der nahe der ukrainischen Stadt Isjum exhumierten Leichen weisen nach Angaben des örtlichen Gouverneurs Anzeichen eines gewaltsamen Todes auf. Der Gouverneur der Region Charkiw, Oleg Synegubow, schrieb im Onlinedienst Telegram, dies sei

17.09.2022

Hunderte Tote, viele davon mit Folterverletzungen, sind im Wald von Isjum nach dem Rückzug der russischen Truppen gefunden worden. Viel, viel mehr Menschen wurden in der ukrainischen Stadt gefoltert – eine Spurensuche.

Von Lori Hinnant, Evgeniy Maloletka und Vasilisa Stepanenko, AP

Eine tiefe, dunkle Grube mit eingeritzten Daten an den Wänden. Eine feuchte unterirdische Zelle, in der sich der beissende Geruch von Urin gefangen hat. Ein Spital. Eine Polizeiwache. Ein Kindergarten. All diese Orte – und einige mehr – dienten während der russischen Besatzung in der ukrainischen Stadt Isjum als Folterstätten.

Insgesamt zehn solcher Orte des Grauens fanden Journalisten der Nachrichtenagentur AP. Gefoltert wurde nach AP-Recherchen willkürlich und routinemässig in den sechs Monaten, in denen die russischen Truppen die Stadt kontrollierten.

Nach der Befreiung Mitte September wurden hier Massengräber mit mehreren Hundert Toten entdeckt. Die meisten Menschen seien eines gewaltsamen Todes gestorben, hiess es. Von rund 450 kürzlich exhumierten Leichen aus einem Massengrab im Wald bei Isjum wiesen Dutzende deutliche Folterspuren auf.

Schweigen die Regel

Die Toten waren gefesselt, aus unmittelbarer Nähe erschossen worden, sie hatten gebrochene Glieder oder Stichwunden, wie die Staatsanwaltschaft der Region Charkiw meldete. Die Verletzungen decken sich mit dem, was auch Überlebende vorzeigen.

Ein Arzt, der während der russischen Besatzung Hunderte Verwundete behandelte, berichtet, dass immer wieder Patienten mit Verletzungen zu ihm kamen, die mit Folterspuren übereinstimmten. Darunter seien Schusswunden in Händen und Füssen gewesen, gebrochenen Knochen, schwere Blutergüsse, Verbrennungen. Niemand habe ihm aber die Ursache der Verletzung genannt.

Eine Frau sammelt Brennolz in einer zerstörten Schule in Isjum. (19. September 2022)
Eine Frau sammelt Brennolz in einer zerstörten Schule in Isjum. (19. September 2022)
Bild: Keystone/AP Photo/Evgeniy Maloletka

«Auch wenn die Menschen ins Spital kamen, war Schweigen die Regel», sagt Chefarzt Jurij Kusnezow. Selbst wenn es offensichtlich gewesen sei. Ein Soldat etwa sei mit Verletzungen an den Händen gekommen, die eindeutig von Fesselungen kamen. Aber der Mann habe sich geweigert, zu erklären, was ihm zugestossen sei.

Risiko Verbindung zu ukrainischen Streitkräften

Männer mit Verbindungen zu den ukrainischen Streitkräften wurden wiederholt von den Besatzern herausgegriffen, aber jeder erwachsene Mann lief Gefahr, gefangen genommen zu werden. Die UN-Menschenrechtsmission in der Ukraine dokumentierte «weit verbreitete Praktiken der Folter oder Misshandlung von zivilen Gefangenen» durch russische Streitkräfte und ihre Verbündeten, wie Missionsleiterin Matilda Bogner der AP sagte. Und die Folter von Soldaten sei systematisch gewesen.

Zu den Opfern zählt auch Andrij Kozar. Der 26 Jahre alte Soldat, dessen Einheit sich im Chaos auflöste, als die russischen Truppen einrückten, berichtet von mehrfacher Folter. Drei Mal hätten die russischen Soldaten ihn festgenommen und gepeinigt, jedes Mal aber wieder freigelassen, weil er keinerlei Informationen für sie hatte. «Sie nahmen, ich weiss nicht genau was, irgendwelches Eisen, vielleicht auch Glasstäbe und verbrannten die Haut Stückchen für Stückchen», sagt Kozar.

Schliesslich versteckte sich der junge Mann in einem Kloster. Seine Angehörigen habe er nicht kontaktieren können, sagt er. Die Familie habe ihn für tot gehalten.

Mehrfache Gefangennahme

Im Frühjahr nahmen die russischen Truppen auch Mykola Mosjakyn zum ersten Mal fest. Der 38-Jährige hatte sich nach Kriegsbeginn als Soldat gemeldet. Die Besatzer warfen Mosjakyn in eine Grube voller Wasser, legten ihm Handfesseln an und hängten ihn daran auf. «Sie schlugen mich mit Stöcken. Sie schlugen mich mit den Händen, sie traten mich, sie drückten Zigaretten auf mir aus, sie drückten Streichhölzer auf mir aus», sagt er.

«Sie befahlen: «Tanz!», aber ich habe nicht getanzt. Also schossen sie auf meine Füsse.» Nach drei Tagen hätten ihn die Russen dann in der Nähe des Spitals abgesetzt mit der Anweisung: «Sag ihnen, du hattest einen Unfall.»

Nur wenige Tage später sei er erneut gefangen genommen worden. Diesmal habe er sich in der Schule Nr. 2 wiedergefunden, wo er zusammen mit anderen Ukrainern verprügelt worden sei. Die Schule diente auch als Stützpunkt und Feldlazarett für russische Soldaten.

Regelmässige Vergewaltigungen

Mosjakyn wurde erneut freigelassen – und kurz darauf wieder festgesetzt. Diesmal in der überfüllten Garage eines Spitals. Mehr als ein Dutzend weitere Ukrainer wurden mit ihm gefangen genommen, Soldaten und Zivilisten. In zwei Garagen wurden Männer festgehalten, in einer Frauen, und eine weitere, grössere – die einzige mit einem Fenster – diente russischen Soldaten als Unterkunft.

Die Frauen wurden in der Garage gefangengehalten, die den Soldaten am nächsten lag. Sowohl Mosjakyn als auch Kozsar, die beide zu verschiedenen Zeiten auf dem Gelände gefangen waren, erinnern sich an die nächtlichen Schreie. Nach Angaben ukrainischer Geheimdienstler wurden die gefangenen Frauen regelmässig vergewaltigt.

Ein ukrainischer Beamter dokumentiert mit seinem Smartphone den Fund des Grabes eine ukrainischen Soldaten. (Archiv)
Ein ukrainischer Beamter dokumentiert mit seinem Smartphone den Fund des Grabes eine ukrainischen Soldaten. (Archiv)
Bild: Keystone

Hier beobachtete Mykola Mosjakyn auch, wie russische Soldaten die leblosen Körper zweier zu Tode gefolterten Zivilisten herauszogen. «Sie folterten Zivilisten nach Belieben», sagt Olha Saparoschtschenko. «Ich habe nur ein Wort: Völkermord», erklärt sie und zeigt den Journalisten das Grab ihres Bruders Ivan Schabelnyk.

Folter und Tod

Er war am 23. März mit einem Freund in den Wald gegangen, um Tannenzapfen zum Feueranzünden zu sammeln – und nie zurückgekehrt. Später erfuhr die Familie von einem anderen Mann, dass die beiden gemeinsam mit ihm gefoltert worden waren. Die Leichen von Ivan und dessen Freund wurden schliesslich Mitte August, in den letzten Tagen der Besatzung, von einem Brennholzsammler im Wald gefunden.

Schabelnyks Hände waren zerschossen, seine Rippen gebrochen, sein Gesicht unkenntlich gemacht. Man identifizierte ihn unter anderem anhand der Jacke, die er trug, seiner Dienstkleidung aus der örtlichen Getreidefabrik.