Eine junge Afghanin erzählt «Wir haben das Gefühl, ein Spielzeug in ihren Händen zu sein»

Von Maximilian Haase und Anne Funk

9.10.2021

Taliban-Kämpfer stellen sich in Kabul einem Protestzug von Frauen entgegen.
Taliban-Kämpfer stellen sich in Kabul einem Protestzug von Frauen entgegen.
Bild: Marcus Yam / Los Angeles Times via Getty Images

Vor einem Monat haben die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen. Wie hat sich der Alltag insbesondere von Frauen seither verändert? Eine junge Afghanin berichtet.

Von Maximilian Haase und Anne Funk

Über einen Monat ist es her, dass die Welt sorgenvoll auf Afghanistan geblickt hat. Nach dem Abzug der westlichen Truppen hatten die Taliban die Macht übernommen und vielerorts Ängste geschürt. Demokratie, Meinungsfreiheit und Frauenrechte scheinen unter Führung der radikalen Islamisten akut bedroht.

Was seither geschah, bestätigte viele der Befürchtungen: Die Taliban schafften unter anderem das Frauenministerium ab, schlossen Einrichtungen für Frauen, stellen Hingerichtete öffentlich zur Schau und liefern sich einen tödlichen Konflikt mit der Terrororganisation IS. Experten sehen einen Kollaps des Gesundheitssystems bevorstehen, aber auch von Protesten gegen die Taliban ist bisweilen zu hören. 



Doch wie sieht der Alltag in dem Land heute aus – vor allem für Mädchen und Frauen? Die junge Afghanin B. M.* berichtet aus der Stadt Herat, wie sich ihr Leben in den vergangenen Wochen drastisch verändert hat.

Frau M., wo befinden Sie sich aktuell?

Ich bin derzeit in Herat. Nach der dortigen Machtübernahme durch die Taliban am 15. August war ich einen Monat lang in Kabul, bin aber nach Herat zurückgekehrt und lebe derzeit bei meinen Verwandten – weit weg von meinem eigenen Zuhause, um einer möglichen Hausdurchsuchung durch die Taliban zu entgehen.

In welchen Bereichen merken Sie den Einfluss der Taliban am meisten?

Am meisten ist ihr Einfluss spürbar, wenn es um die Lage der Frauen geht. Die Taliban äussern sich im Fernsehen, im Radio und auf öffentlichen Plätzen gegen Frauen. Sie fordern die ganze Welt damit heraus. Die Taliban nutzen die Frauenrechte und Fragen nach der Bildung von Mädchen als Druckmittel für ihre internationale Anerkennung. Wir haben das Gefühl, dass wir ein Spielzeug in ihren Händen sind.

Zur Person

B.M. ist 23 Jahre alt und lebt derzeit
in der westafghanischen Stadt Herat.
Vor der Machtübernahme der Taliban hat sie Wirtschaftswissenschaften studiert und als Lehrerin in einem Alphabetisierungskurs für Frauen gearbeitet.

Zu ihrem eigenen Schutz wurde auf ein Bild verzichtet.

Wie zeigt sich das in Ihrem Alltag?

Jeden Tag beginne ich mit Ungewissheit. Ich weiss nicht, was ich tun soll. Früher bin ich zur Universität gegangen und habe jeden Tag gearbeitet. Es gibt keine Möglichkeit, draussen zu arbeiten, Bildungseinrichtungen aufzusuchen oder sich offen an öffentlichen Orten aufzuhalten. Es ist schwierig, sich an die neuen Umstände anzupassen. Ich bin in den letzten 20 Jahren aufgewachsen, als Mädchen frei zur Schule gehen und arbeiten durften.

Wie lebten und arbeiteten Sie vor der Machtübernahme?

Bevor die Taliban an die Macht kamen, arbeitete ich als Lehrerin in einem Alphabetisierungskurs in einer Einrichtung, die sich für die Stärkung von Frauen einsetzt. Ausserdem studierte ich Wirtschaftswissenschaften im Bachelorstudiengang. Es war mein 6. Semester. Jetzt bin ich zu Hause, die Taliban öffnen die Universitäten nicht und es ist Frauen nicht mehr erlaubt, zu arbeiten. Diese Situation ist besonders schwierig für Menschen wie mich, die keine männlichen Familienmitglieder haben. 

Inwiefern?

Aktuell wohne ich zusammen mit meiner Mutter und zwei Schwestern. Ein solcher reiner Frauenhaushalt birgt Gefahren. Die Taliban haben Frauen verboten, ohne Mahram, also ohne männliche Begleitung zu reisen, zu arbeiten oder sich an öffentlichen Orten aufzuhalten. Zudem arbeiten die Männer und bestreiten den Lebensunterhalt, während dies Frauen verboten ist. Nicht zuletzt bieten Männer in Afghanistan daher Sicherheit und Schutz. Frauen sind viel zu gefährdet. 

Was machen Sie, wenn Sie sich dennoch in der Öffentlichkeit bewegen?

Ich muss sehr vorsichtig sein. Meistens trage ich den von den Taliban bevorzugten Hijab und kleide mich so, wie sie es wollen. Ich sehe ihre seltsamen und furchteinflössenden Augen, mit denen sie die Frauen anstarren. Sie mögen es nicht, wenn Frauen sich in der Öffentlichkeit aufhalten.

Müssen Sie aufpassen, mit wem Sie sich über bestimmte Themen unterhalten?

Ja, ich muss aufpassen, wenn ich mich an öffentlichen Orten, im Auto oder sogar im Freundeskreis unterhalte. Männer aus meiner Verwandtschaft sind für die Rechte der Frauen. Aber sie sehen, wie sich die Verhältnisse ändern – und raten mir immer, vorsichtig zu sein, wenn ich aus dem Haus gehe.

An ein normales Leben ist derzeit also nicht zu denken?

Nein, es gibt kein normales Leben. Die Taliban haben sich in unser Leben eingemischt. Wir gehen nicht regelmässig zur Schule oder zur Arbeit. Wir sind zu Hause – und Frauen, besonders diejenigen, die in der Stadt aufgewachsen sind, mögen es überhaupt nicht, nur Hausfrau zu sein. Die Taliban haben uns zu etwas gezwungen, das wir ablehnen. Die Frauen machen sich Sorgen um ihre Zukunft, viele leiden an Depressionen.

Wie würden Sie insgesamt die Stimmung im Land beschreiben?

Es herrscht ein Klima der Angst. Ich sehe Männer und Frauen, die den Taliban aus dem Weg gehen, wenn sie sie sehen. Die Menschen hören keine Musik, sie kleiden sich nicht normal. Die Märkte sind geschlossen, jeder denkt nur an sein Überleben.

Es gibt Berichte, dass die Versorgungslage im Land überaus prekär ist. Was nehmen Sie davon wahr?

Ich habe gesehen, dass die Armut zunimmt. Die Zahl der Menschen, die um Essen betteln müssen, steigt. Die Jugend verlässt das Land, die Bevölkerung in der Stadt nimmt ab. Es gibt keine Arbeit. Mädchen dürfen in der Grundschule und im Gymnasium, also von der 6. bis zur 12. Klasse, nicht zur Schule gehen. Es herrscht eine absolute Finanzkrise; die Banken funktionieren nicht. Die Menschen wollen ihre Ersparnisse abheben und müssen drei Tage lang kämpfen, um das Geld zu bekommen. 

Seit die Taliban an der Macht sind, herrscht also Chaos?

Einen Monat nach der Machtübernahme der Taliban sind die staatlichen Einrichtungen noch immer geschlossen. Die Lage ist so unberechenbar. Wir wissen nicht, was als Nächstes kommen könnte. Zwischen den Taliban und dem Volk herrscht eine grosse Kluft. 

Hierzulande sahen wir auch Bilder von Protesten gegen die Taliban. Haben Sie davon etwas mitbekommen?

Ja, ich kenne viele Menschen, die daran teilgenommen haben. Aber ich konnte nicht. Meine Familie hat es mir nicht erlaubt, aus Angst vor den Konsequenzen. Es ist lebensgefährlich. Ich habe viele tapfere Mädchen und Frauen gesehen, die gegen die Taliban protestiert haben. Die Taliban haben sie in der Öffentlichkeit verprügelt und Journalisten, die über ihre Proteste berichteten, inhaftiert. Ich habe Schüsse gehört und vielfache Formen der Gewalt beobachtet.

Wie viele Menschen in Afghanistan, glauben Sie, begrüssen dagegen die Machtübernahme der Taliban?

Die Taliban spielten ein doppeltes Spiel: Sie unterdrückten die Anti-Taliban-Bewegung und organisierten gleichzeitig eine Reihe von Pro-Taliban-Demonstrationen. Das ist ein Missbrauch der Demokratie. Die Frauen, die auf den Pro-Taliban-Demos zu sehen sind, sind nicht freiwillig gekommen. Es gibt auch Vorwürfe, dass sich unter ihnen männliche Teilnehmer befinden, die sich verkleiden. Die Wahrheit ist: Wenn die Machthaber es zuliessen und die Anti-Taliban-Bewegung nicht aufgibt, würden Millionen von Frauen gegen die Taliban protestieren. 

Sie sehen also eine Mehrheit gegen die Taliban – vor allem in den Städten?

Ich glaube, die meisten Menschen lehnen die Taliban ab. Das hängt aber nicht davon ab, ob man in städtischen oder ländlichen Gebieten lebt. Es geht eher um die ethnische Zugehörigkeit und die Kultur. Die Paschtunen, die vor allem in ländlichen Gebieten leben, bevorzugen die Taliban. Andere Volksgruppen sind selten Befürworter der Taliban. Diejenigen, die ihre Unterstützung für die Taliban bekunden, versuchen sich und ihre Familien vor Schaden zu bewahren. Die Taliban sind eine Minderheit, die die Macht mit Gewalt übernommen hat.

Gegenüber westlichen Medien gaben sich manche Taliban-Sprecher vergleichsweise moderat. Was ist davon zu halten?

Eines der Dinge, denen die Weltmedien nicht trauen sollten, ist die Ankündigung der Taliban, zu «vergeben». Während die Taliban von Vergebung sprachen, begannen sie mit Rachemorden, gezielten Tötungen, Hausdurchsuchungen und der Verurteilung ihrer Gegner. 

Wovor haben Sie mit Blick auf die kommenden Monate am meisten Angst?

Ich glaube, dass sich die Armut innerhalb einiger Monate noch verschlimmern wird. Dass die Frauen ausgegrenzt werden, dass Afghanistan als Land international ignoriert und ausgeschlossen wird, dass die Taliban die Finanzkrise nicht in den Griff bekommen. Dass die Menschen unzufriedener werden und dass es einen neuen Bürgerkrieg geben wird.

Kennen Sie Menschen, die geflohen sind – und denken Sie selbst an Flucht?

Ich kenne viele Menschen, die das Land verlassen haben. Auch ich versuche, zu gehen. Angst habe ich vor allem, weil ich vor der Machtübernahme der Taliban mit internationalen Organisationen zusammengearbeitet habe.

* Name der Redaktion bekannt