Augenzeugen berichten Bereits jetzt brechen die Taliban überall ihre heuchlerischen Versprechen

Von Philipp Dahm

20.8.2021

Um die Regierungsübernahme nicht zu gefährden, geben sich die Taliban versöhnlich. Was dagegen spricht: schwarze Listen, tote Journalisten und ausgesperrte Frauen. Manche Afghanen ergreifen drastische Massnahmen.

Von Philipp Dahm

Sie wollen die Rechte von Frauen achten, sie vergeben scheinbar ihren alten Widersachern und auch Ausländer hätten nichts zu befürchten: Die Taliban haben sich zuletzt versöhnlich gegeben.

Taliban posieren am 19. August in Kabul für die Kamera.
Taliban posieren am 19. August in Kabul für die Kamera.
KEYSTONE

Was dagegen spricht, ist einerseits das Dogma in ihrer Ideologie. Und andererseits dürfte die plötzliche Milde auch ganz praktischen Erwägungen geschuldet sein: Immerhin müssen diese jetzt eine komplette Bürokratie übernehmen und die tägliche Versorgung der Menschen sicherstellen. Und da auch in Afghanistan die Papierakten inzwischen ausgedient haben, brauchen die Fanatiker Menschen, die damit umgehen können.

Sie sind auf Bäcker angewiesen, die weiter Nahrungsmittel herstellen, auf Beamte, die ihnen Zugang zu digitalen Dokumenten geewähren und auf Piloten der aufgelösten afghanischen Armee, die ihnen beibringen, wie sie die amerikanischen Helikopter und Flugzeuge bedienen, die ihnen in die Hände gefallen sind. Deshalb beschwören die neuen Machthaber nun auch die Einheit des Landes.

Frauen ausgesperrt

Sprich: Es lohnt sich für die Taliban, temporär nachsichtig zu sein, denn dass der Regierungswechsel so schnell stattgefunden hat, überfordert auch die neuen Machthaber potenziell. Und nicht zuletzt fliesst so möglicherweise auch noch Geld aus dem Ausland, das dringend benötigt wird, um etwa Energielieferungen aus den Nachbarländern zu bezahlen.

Doch hinter der Fassade der gnädigen Sieger blitzt jetzt schon die hässliche Fratze des totalitären Überwachungsstaats durch, der das Islamische Emirat bereits zwischen 1996 und 2001 gewesen ist. Von dem Versprechen, Frauen nicht zu diskriminieren, ist jetzt schon wenig übrig.

Da wäre etwa der Fall von Shabnam Khan Dawran, die seit sechs Jahren als Moderatorin beim staatlichen Sender Radio Television Mili (RTM) gearbeitet hat. Sie habe zwar gehört, dass sich die Regeln des Systems geändert hätten, doch sie habe «all ihren Mut» zusammengenommen, sei zur Arbeit gegangen – und nicht reingelassen worden. Nun hat die Journalistin ein Video veröffentlicht – und muss wahrscheinlich um ihr Leben fürchten.

Jagd auf Journalisten

Dassselbe Schicksal hat Khadiya Amin und ihre Kolleginnen ereilt. «Ich bin Journalistin und darf nicht arbeiten», zitiert die «New York Times» die 28-Jährige. «Was soll ich nun tun? Die kommende Generation wird nichts haben. Alles, was wir in 20 Jahren erreicht haben, geht verloren. Die Taliban sind die Taliban. Sie haben sich nicht verändert.»

Auf der Jagd nach einem Journalisten der Deutschen Welle (DW) hätten die Taliban einen Angehörigen seiner Failie erschossen, meldet der deutsche Auslandssender. Insgesamt seien die Wohnungen von drei DW-Journalisten durchsucht worden.

Andere Reporter sind entweder getötet – wie Toofan Omar, der Besitzer des Privatradios Paktia Ghag Radio – oder entführt worden wie Nematullah Hemat von Ghargasht TV. In Jalalabad wurde Amdadullah Hamdard erschossen, der regelmässig für die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» Texte übersetzt hatte.

Auch Ausländer kommen nicht zum Flughafen durch

Auch die Ansage, Ausländer und deren Helfer hätten nichts zu befürchten, stösst bei den eigenen Leuten offensichtlich auf taube Ohren: Nachdem gestern Australien seine Bürger aufgefordert hat, das Land über den Flughafen Kabul zu verlassen, wurden jene an Strassen-Kontrollposten zurückgewiesen – mit Peitschenhieben und Warnschüssen, berichtet der «Guardian».

Dass auch viele Afghanen den neuen Machthabern nicht über den Weg trauen, zeigen erschütternde Szenen vom Flughafen Kabul: Dort haben Frauen britischen Soldaten ihre Babys zugeworfen, damit diese die Kinder einfach nur aus dem Land bringen.

«Es war schrecklich», sagt ein Armeeangehöriger dem Sender Sky News. «Frauen haben ihre Babys über den Stacheldrahtzaun geworfen und die Soldaten gebeten, sie mitzunehmen. Einige blieben am Stacheldrahtzaun hängen.» Taten der Verzweiflung, die auch noch vergebens sind: London betont, es würden keine Kinder ohne Elternteil ausgeflogen.

Jagd auf Kollaborateure

Warum viele Afghanen jetzt Panik haben, beleuchtet ein aktueller Bericht der UNO: Demnach haben die Taliban auf der Suche nach Kollaborateuren einen Gang hochgeschaltet. Wie die Nachrichtenagentur AFP und weitere Medien melden, hätte die neuen Machthaber entsprechende schwarze Listen angefertigt.

Sippenhaft inklusive: «Sie zielen auf die Familien jener, die sich nicht ergeben wollen», erklärt UNO-Mann Christian Nellemann der AFP. «Sie verfolgen und verurteilen die Familien nach islamischen Recht. Wir erwarten, dass Personen, die entweder mit der Nato oder ihren Verbündeten zusammengearbeitet haben, wie auch ihre Familien gefoltert und exekutiert werden.»

Wie schon vorgestern berichtet, sollen die Taliban mit ihren Listen nun von Haus zu Haus ziehen. Auch zwischen Volksgruppen soll es bereits Übergriffe gegeben haben: Die BBC berichtet, dass Mitglieder der Hazara von den paschtunischen Taliban «gefoltert und massakriert» worden seien.