Prominente Russen gegen Putin«Sie senden niemals Drohungen. Sie töten einfach»
Von Philipp Dahm
18.3.2022
Die Sprache erinnert an die Stalin-Zeit: Wer sich in Russland gegen den Krieg ausspricht, gilt als «Abschaum und Verräter». Ein junger Rap-Star, eine Primaballerina und TV-Angestellte halten dennoch dagegen.
Von Philipp Dahm
18.03.2022, 13:52
18.03.2022, 16:32
Philipp Dahm
Wladimir Putin offenbart mit jeder seiner wütenden Reden mehr von seinem paranoiden, wahnwitzigen Weltbild. Der russische Präsident wähnt Bürger*innen in seinen Reihen, die «mental» mit dem «kollektiven Westen» zusammenarbeiten, um das Land von innen heraus zu zerstören, glaubt der 69-Jährige.
«Das russische Volk wird immer in der Lage sein, wahre Patrioten von Abschaum und Verrätern zu unterscheiden», tönt Putin am 16. März, «und es wird sie ausspucken wie eine Mücke, die ihm versehentlich in den Mund geflogen ist.»
Und weiter: «Ich bin davon überzeugt, dass eine solche natürliche und notwendige Säuberung der Gesellschaft unser Land, unsere Solidarität, den Zusammenhalt und die Bereitschaft nur stärken wird, um allen Herausforderungen zu begegnen.»
«Und so geht die Säuberung vonstatten»
Worte wie Säuberung, Abschaum und Verräter rufen unmittelbar Erinnerungen an die Ära Josef Stalin wach, als Millionen von Russinnen und Russen im Rahmen von «politischen Säuberungen» ermordet worden sind. Putins Sprecher Dmitri Peskow mühte sich dann auch am Folgetag, die Aussagen seines Bosses etwas abzuschwächen.
«In diesen schwierigen Zeiten zeigen viele Leute ihr wahres Gesicht», so Peskow. «Sehr viele Leute entpuppen sich selbst – wie wir im Russischen sagen – als Verräter. Sie verschwinden von sich aus aus unseren Leben. Einige verlassen ihren Posten. Einige geben ihre Arbeit auf. Einige verlassen das Land und ziehen in einen anderen Staat. Und so geht die Säuberung vonstatten.»
Peskow spielt wahrscheinlich auf einen Exodus von Mitarbeitenden der russischen TV-Sender an. Am 15. März hat eine das Handtuch geworfen, die ausgerechnet von Wladimir Putin ausdrücklich gelobt worden ist: Lilia Gildeewa, die 16 Jahre für den Staatssender NTV gearbeitet hat, verkündet, dass sie Russland verlassen habe. «Ich hatte Angst, sie würden mich nicht gehen lassen», sagt sie nach ihrer Flucht.
«Ich habe einen Sohn. Ich kann nicht gehen»
Ihr NTV-Kollege Wadim Glusker ist wegen des Krieges nach fast 30 Jahren beim Sender zurückgetreten. Konkurrent Channel One verliert laut BBC seine Europa-Korrespondentin Zhanna Agalakowa, und auch RT haben einige Angestellte den Rücken gekehrt wie der Moderator des französischen Anglegers, Frédéric Taddeï, oder die frühere Chefredaktorin Maria Baronowa.
«Das Problem ist, dass ich diese Leute sehr gut kenne», vertraut Baranowa «Fox News» an. «Sie senden niemals Drohungen. Sie töten einfach.» Deshalb sei sie zurückgetreten, bleibe aber in Moskau. «Ich habe einen Sohn. Ich kann nicht gehen, weil sein Vater nicht erlauben würde, dass ich ihn mitnehme.» Die Journalistin warnt weiter ausdrücklich davor, dass wir am Rande eines Atomkrieges stünden.
Ein Bericht von Al Jazeera über den Exodus russischer Journalisten.
Dass Sender wie Rain TV den Sendebetrieb einstellen, ist der harschen neuen Zensur geschuldet, die bis zu 15 Jahre Haft vorsieht, wenn dem Narrativ des Kremls widersprochen wird. Dass die Journalisten vor laufender Kamera die Lichter ausmachen, ist vielleicht auch einer Marina Owsjannikowa zu verdanken, deren Widerstand während einer Nachrichtensendung viele inspiriert hat.
Kriegsgegnerin stört Nachrichtensendung im russischen Staatsfernsehen
STORY: Nachrichten im russischen Staatsfernsehen Kanal 1 am Montagabend – inhaltlich stramm auf Linie des Kremls mit der Botschaft: Russland war gezwungen, die Ukraine anzugreifen. Doch dann stört eine Mitarbeiterin die Sendung. Auf dem Schild steht auf englisch und russisch: «Kein Krieg. Stoppt den Krieg. Glaubt nicht der Propaganda. Sie lügen Euch an.» Nach wenigen Sekunden schaltete der Sender auf ein anderen Bericht um. Das Staatsfernsehen ist die Hauptnachrichtenquelle für viele Millionen Russen. In einem Video, das vor dem Vorfall aufgezeichnet worden sein soll und anschliessend online gestellt wurde, beschrieb sich eine Frau, die die Aktivistin zu schein schien, als Mitarbeiterin des Senders. Sie sagte, dass sie sich dafür schäme, jahrelang Kreml-Propaganda verbreitet zu haben. Ihr Vater sei Ukrainer, ihre Mutter Russin. Was derzeit in der Ukraine passiere, sei ein Verbrechen und Russland sei der Aggressor. Die Verantwortung liege bei einem Mann und dieser sei Präsident Wladimir Putin. Sie rief das russische Volk auf, auf die Strasse zu gehen und zu demonstrieren. Nach Angaben einer Menschenrechtsgruppe wurde die Frau verhaftet und wird sich wohl unter anderem wegen Diskreditierung der Streitkräfte verantworten müssen. Der aussergewöhnliche Protest fand am 19. Tag des Kriegs statt, der mit dem Einmarsch des russischen Militärs in die Ukraine am 24. Februar begonnen hatte. Russland nennt die Invasion eine militärische Sonderoperation. Diese Satellitenbilder zeigen die Zerstörung in den unter russischem Beschuss stehenden Städten Mariupol, Irpin bei Kiew und auf der strategisch wichtigen Schlangeninsel im Schwarzen Meer.
18.03.2022
«Ich hoffe, dass mein Sohn versteht, wenn er älter ist»
Und Owsjannikowa tut dem Kreml nun zudem nicht den Gefallen, von der Bildfläche zu verschwinden. Die zweifache Mutter sagt zwar, dass ihre «Geste das Leben unserer Familie zermalmt» habe. Ihr Sohn leide unter Angstzuständen.
«Aber wir müssen diesem Bruderkrieg ein Ende bereiten, damit dieser Wahnsinn nicht in einem Atomkrieg endet. Ich hoffe, dass mein Sohn versteht, warum ich das getan habe, wenn er älter ist», erklärt Owsjannikowa. Ein Angebot über Asyl in Frankreich lehnt die Russin ab – auch wenn sie «jetzt der Feind Nummer eins hier» sei. Sie sei gleichzeitig «Patriotin», betont sie im «Spiegel» kämpferisch.
Andere, die ebenfalls im Rampenlicht stehen, schliessen sich den Journalist*innen an – so wie der Comedian Maxim Galki, der sich auf Instagram gegen den Krieg ausspricht. Oder Miron Fjodorow, der als Oxxxymiron als einflussreichster Rapper Russlands gilt und in Istanbul ein Konzert für ukrainische Flüchtlinge gibt. Weitere Musiker haben sich seiner Kritik angeschlossen.
Von der Bolschoi-Ballerina bis zum Tennis-Ass
Der vielleicht grösste russische Star, der bei Putins Plänen nicht mitspielen will, ist eine Primaballerina: Tänzerin Olga Smirnowa verlässt das weltberühmte Bolschoi-Theater und schliesst sich dem Niederländischen Nationalballett an. «Ich hätte nie gedacht, dass ich mich Russlands einmal schämen würde», schreibt die 30-Jährige. «Aber jetzt fühle ich, dass eine Grenze überschritten worden ist.»
Neben Journalismus und Kunst regt sich auch im Sport prominenter Widerstand – angefangen bei der Antikriegsbotschaft von Tennis-As Andrej Rublev über Eishockey-Star Alexander Ovechkin, der bisher als glühender Putin-Fan galt, bis hin zu Artyom Dzyuba: Der Kapitän der russischen Fussball-Nationalmannschaft will wegen der Invasion vorerst nicht mehr für sein Land spielen, berichtet der «Kicker».
Zusammen mit den Prominenten kämpfen auch ganz normale Russinnen und Russen an der Heimatfront gegen das Kreml-Regime: Die Zahl der Verhaftungen in Russland liegt inzwischen bei knapp 15'000, schätzt die Organisation OVD Info.