Russland-Experte über Kiews «Siegesplan» «Putin und Selenskyj werden nicht verhandeln»

Von Stefan Michel

25.9.2024

Eine Verhandlungslösung ist nicht in Sicht: Die Positionen Kiews und Moskaus zur Zukunft der Ukraine liegen meilenweit auseinander.
Eine Verhandlungslösung ist nicht in Sicht: Die Positionen Kiews und Moskaus zur Zukunft der Ukraine liegen meilenweit auseinander.
Bild: Keystone

Präsident Selenskyj behauptet, den Krieg 2025 beenden zu können. Doch Russland stehe nicht am Rande einer Niederlage und eine Verhandlungs-Lösung sei nicht in Sicht, sagt Russland-Experte Ulrich Schmid.

Stefan Michel

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Selenskyj hat einen Plan angekündigt, mit dem die Ukraine den Krieg 2025 beenden könne.
  • Putins hat schon mehrmals erklärt, unter welchen Bedingungen er den Krieg in der Ukraine einstellt. 
  • Russland-Experte Ulrich Schmid erklärt, dass Selenskyj und Putin nicht daran denken, miteinander zu verhandeln. Stattdessen versuchen sie ihre Machtbasis so abzusichern, dass sie der anderen Seite ihre Friedenslösung aufzwingen können.

Selenskyj fordert, dass Russland jegliches ukrainische Territorium zurückgibt und seine Angriffe einstellt. Warum sollte Putin das tun?

Der Adressat von Selenskyjs Plan ist nicht Putin. Der russische Präsident hat hinreichend klar gemacht, dass er sein politisches Schicksal mit einem Kriegsausgang verbindet, den er seiner Bevölkerung als Sieg verkaufen kann. Er hat unmittelbar vor der Bürgenstock-Konferenz seinen eigenen Plan vorgelegt, der aber auf eine Kapitulation der Ukraine hinausläuft.

An wen richtet sich Selenskyj mit seinem Plan?

Selenskyj geht es darum, sich im Westen Unterstützung zu holen, zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl in den USA. Er will seine Position absichern. Zudem will er so Einfluss auf die Diskussion nehmen, ob die USA der Ukraine erlauben sollen, mit ihren Waffen russisches Territorium anzugreifen.

Sein Friedensplan sieht die Ausweitung der ukrainischen Gegenangriffe auf Russland vor?

Selenskyj nennt den Plan ja auch Siegesplan. Im Wortlaut ist er noch nicht bekannt, aber er will die ukrainischen Angriffe auf Russland legitimieren, um so eine Position der eigenen Stärke aufzubauen.

Soll Putin mit diesem diplomatischen Vorstoss im Westen beeindruckt werden?

Nein, Selenskyj und seine Berater sind Realisten genug, um zu sehen, dass sie Russland nicht beeindrucken und dessen Verhalten nicht ändern können.

Was ist über den Inhalt des Friedens- beziehungsweise Siegesplans bekannt?

Kiew will Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Das ist nichts Neues. Es will Unterstützung für die Angriffe auf russisches Territorium. Selenskyj beabsichtigt, das besetzte russische Territorium in späteren Verhandlungen als Trumpf ausspielen zu können, um ukrainisches Territorium zurückzuerhalten. Er hat explizit gesagt, er wolle aus einer Position der Stärke Russland zu einem Waffenstillstand zwingen. Er will auch gar nicht mit Putin verhandeln, sondern möglichst viele Staaten auf die Seite der Ukraine bringen.

Wie weit ist er damit gekommen?

Der indische Premierminister Narendra Modi war in Kiew. Das ist ein wichtiges Signal. Indien ist seit dem russischen Ueberfall auf die Ukraine ein wichtiger Abnehmer von russischem Erdöl und damit auch verantwortlich dafür, dass Russland wirtschaftlich immer noch relativ gut dasteht.

Zur Person
IHK SG

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten russische Medientheorien und Nationalismus in Osteuropa. Der Zürcher lehrte oder lehrt an den Universitäten Bern, Basel, Bochum und Oslo.

Es sind aber auch einige gewichtige Länder auf der Seite Russlands.

An der Bürgenstock-Konferenz haben 90 Staaten teilgenommen – an einer Konferenz, die auf Initiative von Selenskyj organisiert wurde. Das ist ein wichtiges Zeichen. Der frühere Aussenminister Dmitri Kuleba soll auch deshalb entlassen worden sein, weil er nicht genug energisch um Unterstützung des globalen Südens geworben hat.

Selenskyj hat gesagt, es sei möglich, dass der Krieg 2025 ende. Wie realistisch ist das?

Das hängt davon ab, ob die Ukraine die Erlaubnis erhält, Russland mit westlichen Waffen anzugreifen. Ob er die erhält, steht in den Sternen. Selenskyj arbeitet daran, sich eine Unterstützung der USA zu sichern, die auch einen Wahlsieg Donald Trumps überdauern würde.

Halten Sie es für möglich, dass die USA die Ukraine unter Trump weiterhin so unterstützen, dass sie Russland standhalten können?

Das dürfte schwierig werden. Trump hat ja vollmundig versprochen, den Krieg binnen 24 Stunden zu beenden. Er würde wahrscheinlich der Ukraine die Unterstützung entziehen, um sie an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Dort müsste er wohl die annektierten Gebiete abtreten, um Sicherheitsgarantien zu erhalten, wie Trumps Vize-Kandidat Vance bereits kommunizierte. Wäre das nicht die Lösung?

Es ist nicht ausgeschlossen, dass das so passiert. Aber die Formel Land gegen Frieden wäre ein gigantischer moralischer Schaden für die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten. Kiew hat mehrere hunderttausend Menschen in den Tod geschickt. Auch Kanzler Scholz und Präsident Macron betonen immer wieder, Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen. Einen solchen Friedensschluss könnte Putin auf jeden Fall als Sieg verkaufen.

Wie lange dauert dieser Krieg noch?

Da wage ich keine Prognose. Es spricht auch alles gegen eine Verhandlungslösung. Es gibt keine Verhandlungspartner, die einander respektieren, keinen Gegenstand, über den sie zu verhandeln bereit sind und keine gemeinsame Sprache. Putin bestreitet ja, dass er in der Ukraine Krieg führt. In seiner Lesart verteidigt er Russland gegen einen Angriff der Nato.

Würde Selenskyj mit Putin verhandeln?

Nein, er hat per Dekret verboten, dass die Ukraine mit Putin verhandelt. Kiew kann mit Moskau verhandeln, aber nicht mit Putin. Dass Putin nicht der Unterzeichner ist, ist in Russland undenkbar, solange er an der Macht ist. Putin stellt Selenskyj als drogensüchtigen Nazi dar. Es ist schwer vorstellbar, dass sich diese beiden Männer an einen Tisch setzen. Putin will auch gar nicht mit der Ukraine verhandeln, sondern mit den USA.

Putin will mit den USA über die Ukraine entscheiden?

Ja, Putin will die Teilung der Ukraine in Verhandlungen mit den USA international anerkennen lassen. Die Regionen Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson würden russisch. Die 2014 annektierte Krim ist ja auch noch nicht international anerkannt.

Die Positionen der beiden Konfliktparteien liegen so weit auseinander, dass Verhandlungen fast nur scheitern könnten. Wie sehen Sie das?

Für die Ukraine sind bis heute drei Punkte unverhandelbar: der vollständige Rückzug Russlands, Reparationen für die Schäden durch die russische Aggression und ein internationales Gericht, ein neues Nürnberg, in dem die russischen Taten während des Kriegs beurteilt werden. Russland hingegen besteht auf den eroberten Gebieten und zudem auf einem vollständigen Ende der Sanktionen. Diese Positionen sind tatsächlich völlig unvereinbar.

Wie will Russland den Krieg gewinnen?

Putin setzt darauf, dass Russland im Abnützungskrieg den längeren Atem hat.

Manche werfen dem Westen vor, die Ukraine nur so stark zu unterstützen, dass sie Russland standhalten, aber nicht besiegen kann. Russland soll nicht fallen. Ist da etwas dran?

Der Vorwurf ist berechtigt. Die militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine ist immer too little too late, also zu gering und sie kommt immer zu spät. Washington will keinen Regime Change, will nicht, dass Putin stürzt. Vor allem will der Westen nicht Kriegspartei werden. Diese rote Linie ist verantwortlich dafür, dass die Verbündeten Kiews die Ukraine nur schrittweise und in einer Salamitaktik unterstützen. 

Nimmt der Kreml das zur Kenntnis?

Es gibt – entgegen dem, was öffentlich gesagt wird – ein gegenseitiges, unausgesprochenes Übereinkommen: Der Westen engagiert sich nicht als Kriegspartei, Russland setzt seine Atomwaffen nicht ein. Das ist das Gleichgewicht des Schreckens in diesem Konflikt zwischen Russland und dem Westen.

So kann das noch Jahre dauern. Müssen wir uns darauf einstellen?

Das ist eine Frage der Ressourcen. Beide Seiten suchen verzweifelt neue Soldaten. Putin könnte problemlos mehr mobilisieren, schreckt aber davor zurück, um den Schein der Normalität in Russland zu wahren. Der Krieg ist unpopulär und die Stimmung könnte kippen. Die Teil-Mobilmachung 2022 hat Schockwellen durch das Land geschickt. Das kann sich Putin auch nach seiner glanzvollen Wiederwahl nicht leisten. Die Stimmung im Land ist übrigens auch ein weiterer Grund, weshalb er keine Atomwaffen einsetzt. Dies würde die russische Bevölkerung nicht gutheissen.

Wie lange dauert es, bis Russland der Schnauf ausgeht?

Ökonomen haben berechnet, dass der Krieg Russland 110 Milliarden Dollar pro Jahr kostet. Das ist ungefähr ein Drittel dessen, was das Land mit dem Verkauf von Erdöl pro Jahr einnimmt. Russland kann diesen Krieg noch lange stemmen. Wichtig ist wie gesagt, dass Putin den Schein der Normalität aufrechterhalten kann.

Dann sind vorher die Ressourcen der Ukraine erschöpft?

Das hängt davon ab, ob und wie stark der Westen die Ukraine unterstützt. 

Das bedeutet, dass dieser Krieg nie endet.

Solange Putin im Kreml ist, sehe ich keine Möglichkeit für ein Kriegsende.

«Siegesplan»: Selenskyjs US-Reise zur UN-Versammlung

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Kiew/Washington, 23.09.2024: Wolodymyr Selenskyj auf dem Weg in die USA: Dort will der ukrainische Präsident bei der UN-Generaldebatte in New York sprechen. Mehr als 140 Staats- und Regierungschefs sind dabei. In einer Videoansprache aus dem Flugzeug betont Selenskyj die Notwendigkeit, die Positionen gemeinsam mit internationalen Partnern zu stärken. Am Rande der UN-Generalversammlung plant er Meetings mit US-Präsident Joe Biden und anderen internationalen Führern. Sein Hauptziel: Weitere Unterstützung für die Ukraine zu sichern. Dabei will er auch seinen Siegesplan vorstellen. Die Situation in der Ukraine ist derzeit schwierig. In der Nacht kam es zu neuen russischen Angriffen.

24.09.2024