Sanktionen wirkungslos? Russland kann weiterhin Hightech-Raketen bauen

tgab

12.12.2022

Ukrainische Soldaten tragen den Sprengkopf einer russischen Kh-55SM-Rakete. Seit Wochen bombardiert Russland die ukrainische Infrastruktur mit solchen und ähnlichen Marschflugkörpern. (Archiv)
Ukrainische Soldaten tragen den Sprengkopf einer russischen Kh-55SM-Rakete. Seit Wochen bombardiert Russland die ukrainische Infrastruktur mit solchen und ähnlichen Marschflugkörpern. (Archiv)
SERGEY DOLZHENKO/KEYSTONE

Unabhängige Waffenermittler decken auf: Manche Geschosse, mit denen Russland die ukrainische Energie-Infrastruktur bombardiert, sind erst nach den Lieferverboten gebaut worden. Woher hat Russland die Komponenten?

tgab

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin gab sich am 23. November optimistisch, die Russen würden «wegen der Handelsrestriktionen für Mikrochips und andere Dinge nicht in der Lage sein, schnell Präzisionsmunition zu reproduzieren». Doch das muss nach einem Bericht der unabhängigen englischen Forschungsgruppe Conflict Armament Research (CAR) vom 5. Dezember bezweifelt werden.

Die Experten sind auf die Verfolgung und Analyse von Waffen- und Munitionsspuren in Kriegen und Konfliktgebieten weltweit spezialisiert. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sind sie auf Einladung ukrainischer Sicherheitsbehörden ein halbes Dutzend Mal im Land gewesen.

Dort haben sie festgestellt, dass russische Raketen, die der Kreml im November auf die kritische Infrastruktur der Ukraine abfeuern liess, nicht aus einem älteren Vorrat stammen, sondern zum Teil erst im Oktober 2022 in Russland hergestellt wurden – nach den Handelssanktionen des Westens.

Verräterische Zahlenfolgen

Zu diesem Fazit kamen die CAR-Experten nach der Untersuchung einiger Trümmer von Kh-101-Marschflugkörpern, die in Kiew nach einem Angriff am 23. November gefunden wurden.

Die Kh-101-Raketen waren mit einer 13-stelligen Zahlenfolge gekennzeichnet. CAR glaubt, «dass die ersten drei Ziffern die Fabrik darstellen, in der die Rakete hergestellt wurde, gefolgt von einem weiteren dreistelligen Code, der angibt, um welche von zwei bekannten Versionen der Kh-101 es sich handelt, und zwei Ziffern, die angeben, wann sie hergestellt wurde», zitiert die New York Times aus dem CAR-Bericht. Die Experten nehmen an, dass eine letzte Reihe von fünf Zahlen die Produktionscharge und die Seriennummer der Rakete angibt.

Die Kh-101/Kh-102 gehören zu den nuklearfähigen Stealth Air Launched Cruise Missiles (ALCM). Sie wurden entwickelt, um Luftverteidigungssysteme auszutricksen, indem sie in niedrigen, geländenahen Höhen fliegen, und so Radarsysteme unterlaufen. Die Kh-101 trägt einen konventionellen Sprengkopf, während die Kh-102 vermutlich eine nukleare Nutzlast von 250 Kilotonnen hat.

Die Ergebnisse des CAR-Berichts stimmen mit Recherchen des polnischen Journalisten Piotr Butowski überein, der sich auf russische Militärluftfahrt und Bodensysteme spezialisiert hat. «Die ersten drei Ziffern sind immer ‹315› – das ist der Code der Produktionsstätte. Kh-101-Marschflugkörper werden von der Firma Raduga in Dubna bei Moskau entwickelt und hergestellt», schrieb Butowski in einer E-Mail an die NYT.

Konzerne verweisen auf Lieferverpflichtungen

Russland verwendet in seinen Waffen ausgeklügelte US-Elektronik und Computerschaltkreise, von denen das Royal United Service Institute (RUSI) entdeckte, dass sie auch nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine noch ihren Weg in russische Raketen gefunden hatten.

So wurden elektronische Komponenten wie Mikrocontroller, programmierbare Chips und Signalprozessoren von amerikanischen Konzernen wie Texas Instruments Inc, Altera, Xilinx, Maxim Integrated Products Inc. sowie Cypress Semiconductor laut dem RUSI-Bericht gefunden.

Konfrontiert mit den Beweisen für ihre Produkte in russischen Raketen, führten die Unternehmen diese auf Bestellungen vor dem Krieg, bereits laufende Lieferungen nach Beginn der Sanktionen und Verkäufe an Drittkäufer in anderen Ländern zurück. Diese sind am schwierigsten nachzuverfolgen, da Russland sie zur legalen oder illegalen Beschaffung von Elektronik verwenden könnte.

Vorräte schon früh angelegt

Eine andere Erklärung für die anhaltende Waffen-Produktionsfähigkeit Russlands wäre, dass der Kreml lange vor Kriegsbeginn riesige Vorräte an westlichen Komponenten angehäuft hätte, in Erwartung von Sanktionen, die seinen Zugang zu westlicher Hochtechnologie blockieren würden.

Einige westliche Experten vermuten, dass sich das Land seit 2014 auf dieses Szenario vorbereitet habe. Zu jener Zeit brach der erste Donbass-Konflikt aus, nachdem Donezk und Lugansk nach dem Euromaidan-Aufstand in Kiew ihre Unabhängigkeit von der Ukraine erklärt hatten.