Nobelpreis für Kreml-Kritiker «Putin wird alles andere als erfreut sein»

Von Gil Bieler

8.10.2021

Der Journalist Dmitri Muratow hat den Friedensnobelpreis 2021 erhalten.
Der Journalist Dmitri Muratow hat den Friedensnobelpreis 2021 erhalten.
Rainer Jensen/dpa

Die Vergabe des Friedensnobelpreises an einen Kreml-kritischen Journalisten sei «ein deutliches Signal» an Wladimir Putin, sagt ein Russland-Kenner. Dennoch dulde der russische Präsident die «Nowaja Gaseta» aus gutem Grund. 

Von Gil Bieler

Es braucht Mut, in Russland Kritik an der Politik von Wladimir Putin zu äussern. Dmitri Muratow wird für diesen Mut belohnt: Zusammen mit der philippinischen Journalistin Maria Ressa hat er am Freitag den diesjährigen Friedensnobelpreis zugesprochen bekommen.

Seine Zeitung, die er als Chefredaktor leitet, gehört zu den lautesten Kreml-kritischen Stimmen in Russland. «Die ‹Nowaja Gaseta› ist einer der letzten Leuchttürme der Meinungs- und Pressefreiheit in Russland», sagt Ulrich Schmid, Russland-Experte der Universität St. Gallen, zu «blue News». «Die Auszeichnung ist ein wichtiges Signal, dass die regierungskritischen Stimmen in Russland auch gehört werden.»

Und eine Ohrfeige für den Kreml-Chef? «Putin wird natürlich alles andere als erfreut sein», sagt Schmid. «Wenn der Friedensnobelpreis an eine solche Organisation geht, ist das ein sehr deutliches Signal an die Adresse des Kreml.»

Gleichwohl gibt er zu bedenken, dass die «Nowaja Gaseta» für Putin auch pragmatische Bedeutung habe: «Wann immer die Frage aufkommt, ob es in Russland überhaupt noch freien Journalismus gibt, kann Putin auf die ‹Nowaja Gaseta› verweisen.»

Erinnerung an Mord an Politkoskaja

Dass die Enthüllungen der «Nowaja Gaseta» den Mächtigen sehr wohl ein Dorn im Auge sind, zeigt die traurige Tatsache, dass bereits sieben Redaktionsmitglieder Mordanschlägen zum Opfer fielen. Am bekanntesten ist der Fall von Anna Politkowskaja, deren Todestag sich erst diese Woche zum 15. Mal jährte. Am 7. Oktober 2006 war sie im Eingang ihres Moskauer Wohnhauses aufgefunden worden – erschossen. 

Politkowskaja hatte sich mit Reportagen und Berichten über den Krieg in Tschetschenien und Korruption einen Namen gemacht. 2014 verurteilte ein Moskauer Gericht zwar einen Schützen und drei weitere Tschetschenen gemeinsam mit einem ehemaligen Polizisten aus Moskau wegen der Verwicklung in das Verbrechen. Die Suche nach den Auftraggebern, so beklagte Nobelpreisträger Dmitri Muratow kürzlich, sei aber im Sande verlaufen – auch wenn die Behörden vorgäben, sie blieben dran.

Der Mord an Anna Politkowskaja löste in Russland Entsetzen aus. Hier trauert eine Anhängerin 2006 an einer Gedenkstätte in St. Petersburg um die Journalistin. 
Der Mord an Anna Politkowskaja löste in Russland Entsetzen aus. Hier trauert eine Anhängerin 2006 an einer Gedenkstätte in St. Petersburg um die Journalistin. 
Bild: EPA

«Bedauerlicherweise findet derzeit keine Untersuchung statt», sagte Muratow der Nachrichtenagentur AP. «Wir wissen nicht einmal, wann ein Ermittler das letzte Mal mit diesem Strafverfahren zu tun hatte.»

Obschon der Mordfall weltweit für Entsetzen sorgte, in Russland sei die «Nowaja Gaseta» ein Nischenprodukt, sagt Schmid. «Befragungen der Bevölkerung zeigen, dass das Fernsehen – und damit die Staatssender – bei den älteren Generationen mit Abstand am beliebtesten sind, bei den Jüngeren sind es Webangebote. Die Nowaja Gaseta hat ein treues Publikum, aber in der öffentlichen Meinungsbildung keinen grossen Einfluss. Auch wenn sie journalistisch auf einem sehr, sehr hohen Niveau spielt.»

Putin zieht die Schraube an

Mit der Medienfreiheit geht es in Russland beständig bergab. 2012 wurde ein Gesetz erlassen, mit dem Nichtregierungsorganisationen und Medien als «ausländische Agenten» eingestuft werden können. Ausserdem gilt seit 2019 eine verschärfte Extremismus-Rechtsprechung. «Journalistinnen und Journalisten, die etwa an Enthüllungen des Oppositionellen Alexei Nawalny mitarbeiten, stehen damit auf einer Stufe wie die Taliban oder der ‹Islamische Staat›», erklärt Schmid.

Für ihn steht ausser Frage: «Die öffentliche Meinungsbildung wurde in Russland in den letzten Jahren immer strenger kontrolliert.»

Auch die Russland-Korrespondentin von SRF, Luzia Tschirky, beklagt, dass die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende zunehmend erschwert würden. «Neuestes Beispiel: Pressedienst des Parlaments teilte telefonisch mit, dass ausländischen Journalisten Zugang ins Parlament z. Z. verboten sei», schrieb sie im September auf Twitter. Ausnahmen gebe es nur «für wenige russische Journalisten».

Gleichzeitig werde die Liste der «ausländischen Agenten» länger und länger, so Tschirky. «Bald ist jedes unabhängige russischsprachige Medium im Land auf dieser Liste.»

Dmitiri Muratow erklärte, er wolle die Geldprämie für den Journalismus in seinem Land einsetzen. «Wir werden versuchen, Leuten zu helfen, die jetzt als Agenten eingestuft sind, die jetzt drangsaliert und aus dem Land vertrieben werden», sagte der 59-Jährige am Freitag dem unabhängigen Portal Meduza, das ebenfalls als «ausländischer Agent» eingestuft ist.

Hartnäckige Kritikerin von Duterte
CEO of Philippine news website Rappler, Maria Ressa, gestures as she speaks to the media as she arrives at the National Bureau of Investigation (NBI) headquarters in Manila on January 22, 2018.
The head of a news website threatened with closure by the government appeared before state investigators on January 22 over a defamation complaint which she decried as part of President Rodrigo Duterte's concerted attack on press freedom. / AFP PHOTO / NOEL CELIS        (Photo credit should read NOEL CELIS/AFP via Getty Images)
AFP via Getty Images

Auch sie ist Friedensnobelpreisträgerin: Die mehrfach ausgezeichnete Maria Ressa aus Manila ist Chefredakteurin des philippinischen Nachrichtenportals Rappler. Die 58-Jährige gilt als scharfe Kritikerin von Präsident Duterte und wurde bereits mehrfach verhaftet. Vergangenes Jahr war sie in einem Verleumdungsprozess zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sie ging in Berufung und ist auf Kaution auf freiem Fuss. Das US-Magazin «Time» hatte sie 2018 zusammen mit anderen Journalisten zur «Person des Jahres» gekürt. (sda)

Beklemmend schildert auch Sergej Sokolow, stellvertretender Chefredaktor der «Nowaja Gaseta», die Lage im Land: «De facto wird über die Einstufungen als ‹ausländische Agenten› und ‹Extremisten› ein Berufsverbot für Journalisten verhängt, die regierungskritisch sind oder einfach unabhängig arbeiten», beklagt er in einem Interview mit der deutschen «Tagesschau». «Eine Zensur findet offiziell nicht statt, aber es gibt Vorstufen.»

Interessant wird es nun zu sehen sein, wie sich der Friedensnobelpreis für die Arbeit der «Nowaja Gaseta»-Redaktion auswirkt: «Es kann gut sein, dass der Nobelpreis eine Art Schutzwirkung haben wird», glaubt Schmid. «Der Kreml wird wohl besondere Vorsicht walten lassen. Die ‹Novaja Gaseta› kann nun nicht folgenlos als ausländischer Agent oder als extremistisch erklärt werden. Schliesslich ist Putin auf seine Reputation im Ausland bedacht.»

In einer ersten Stellungnahme würdigte der Kreml die Entscheidung des Nobel-Komitees. «Wir können Dmitri Muratow gratulieren. Er arbeitet stringent anhand seiner Ideale, er ergibt sich seinen Idealen. Er ist talentiert und mutig», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der russischen Nachrichtenagentur Interfax. «Das ist natürlich eine hohe Wertschätzung.»

Ob auch Wladimir Putin dem Preisträger persönlich gratulieren werde, sei noch offen, so der Sprecher.

Reporter ohne Grenzen: Schwieriges Umfeld

«Wir freuen uns natürlich sehr darüber», sagt Bettina Büsser von Reporter ohne Grenzen Schweiz. «Geehrt wird damit die Arbeit zweier sehr mutiger, sehr spezieller Medienschaffender. Gleichzeitig ist es auch eine kleine Würdigung für alle Journalistinnen und Journalisten, die sich unter schwierigen Umständen für die Informationsfreiheit einsetzen.»

Das Umfeld für Journalistinnen und Journalisten werde weltweit nicht einfacher, sagt Büsser. «Zum einen gehen autoritäre Regierungen verstärkt gegen die Medien vor. Zum anderen kommt in der Gesellschaft ein Hass auf Medien und Medienschaffende auf, was natürlich ebenfalls eine sehr negative Entwicklung ist.»

Im Laufe der Corona-Pandemie nehmen auch in der Schweiz die Anfeindungen gegen Journalistinnen und Journalisten zu. «Solch massive Anfeindungen wie derzeit habe ich noch nie erlebt», sagt Büsser.