Experte zu möglichen Verhandlungen«Putin käme ein Frieden durchaus gelegen»
Von Philipp Dahm
19.11.2024
Russische Exil-Oppositionelle protestieren gegen Putin
Prominente Unterstützung gab es am Sonntag für die zahlreiche Menschen, die in Berlin gegen Russlands Präsident Wladimir Putin und den Krieg in der Ukraine demonstrierten – fast 1000 Tage nach dem Beginn der russischen Invasion. Julia Nawalnaja, die Witwe des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny, und weitere im Exil lebende russische Oppositionelle führten den Protestzug durch die Bundeshauptstadt an.
18.11.2024
Wladimir Putins Kriegswirtschaft steckt in einer «Schieflage», erklärt Russland-Experte Ulrich Schmid. Ein Gespräch über die wenigen Optionen, die Putin als Ausweg anbietet.
Von Philipp Dahm
19.11.2024, 04:30
19.11.2024, 14:40
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Inflation und Probleme im Immobilienmarkt: Russland-Experte Ulrich Schmid erklärt, womit Putins Wirtschaft zu kämpfen hat.
Schmid umreisst die Minimalbedingungen des Kreml für einen Frieden mit der Ukraine.
Schmid zeigt auf, welche Faktoren Donald Trumps Ukraine-Politik beeinflussen.
Keine Opposition zu Putin: Noch hält das «Stillhalteabkommen zwischen der Führungselite und dem Präsidenten».
Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten russische Medientheorien und Nationalismus in Osteuropa. Der Zürcher lehrte oder lehrt an den Universitäten St. Gallen, Bern, Basel, Bochum und Oslo.
Firmenpleiten, Entlassungen und steigende Preise. Wie steht es um die russische Wirtschaft?
Die russische Wirtschaft befindet sich im Moment in einer Schieflage. Putin brüstet sich gern mit den Zahlen, die auf dem Papier ein erstaunliches Wirtschaftswachstum und eine tiefe Arbeitslosigkeit in Russland ausweisen. Aber wenn man genauer hinschaut, dann muss man ein grosses Fragezeichen hinter diese Zahlen setzen.
Inwiefern?
Die tiefe Arbeitslosigkeit kann man auch als Fachkräftemangel bezeichnen, und das Wirtschaftswachstum wird im Wesentlichen durch die heisslaufende Rüstungsindustrie getrieben.
Es ziehen ja insbesondere jetzt Lebensmittelpreise an: Könnte das für Putin zu einem Problem werden?
Ja, überhaupt muss Putin aufpassen, dass sich die wirtschaftliche Situation für die Konsumentinnen und Konsumenten nicht rapide verschlechtert. Da sind zum einen die steigenden Lebensmittelpreise. Schlimmer sieht es noch auf dem Immobilienmarkt aus. Der rekordhohe Leitzins hat auch die Hypotheken enorm verteuert. Und man sieht auch, dass der Kreml diese Situation durchaus im Blick hat.
⚡️Russia’s Sberbank is raising rates on basic mortgage programs by 3.5% from November 15, the minimum rate will be 28.1%.
👉 Russia’s economic house of cards is every day moving closer to falling apart. pic.twitter.com/72ABxaoQR8
Es gibt für Freiwillige, die sich für den Kriegsdienst in der Ukraine melden, Spezialhypotheken, und damit kann man die Leute tatsächlich anlocken. Vor dem Hintergrund der steigenden Preise ist das attraktiv.
Wie sieht es bei der Inflation aus?
Die Inflation ist ein Problem, gegen das die Zentralbank seit dem offenen Überfall auf die Ukraine kämpft. Man möchte gerne bei 4 bis 5 Prozent landen, aber im Moment sieht es so aus, als ob 8,5 Prozent Inflation für Russland gegen Ende des Jahres wahrscheinlicher sind. Mittlerweile gibt es Prognosen, die sagen, dass dieses ambitiöse Inflationsziel erst 2026 erreicht wird. Zur Inflation kann man sagen: Sie wirkt wie eine allgemeine Konsum- und Vermögenssteuer.
The Ruble is now worth just 1 US cent again, as Russia's currency continues a monthslong slide, coupled with skyrocketing internal inflation. pic.twitter.com/ShJAbeX0NK
Putin hat auf Kriegswirtschaft umgestellt: Kann er sich jetzt überhaupt einen Frieden leisten?
Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Situation in Russland käme ein Frieden Putin durchaus gelegen, wenn er denn nach den Konditionen des Kreml erfolgt. Putin hat sich in jüngster Vergangenheit zweimal zu den Bedingungen geäussert. Einmal gegenüber Orban, als der zu Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft nach Moskau gereist ist. Und vor ein paar Tagen im Telefonat mit Olaf Scholz.
Was wissen wir darüber?
Im Wesentlichen gilt nach wie vor, was Putin im Vorfeld der Bürgenstock-Konferenz gesagt hat. Er fordert eine faktische Kapitulation der Ukraine, ein Ende der Sanktionen und eine Anerkennung der internationalen Grenzen Russlands. Gegenüber Orban sagte Putin, man könne allenfalls über Nuancen sprechen. Und gegenüber Scholz meinte er, man müsse die territorialen Realitäten im Blick behalten.
Wie geht der Kreml in der Ukraine nach der US-Wahl vor?
Im Moment lese ich die Strategie des Kreml so – und es gibt auch entsprechende Gerüchte aus Russland –, dass man versucht, die ukrainische Armee bis zum 20. Januar aus dem Süden der Oblast Kursk zu vertreiben. Dort sind ja auch die nordkoreanischen Soldaten im Einsatz. Mittlerweile gibt es Gerüchte, dass noch weitere Truppen aus Nordkorea in Russland eintreffen sollen. Und wenn wir jetzt über die Frontlinie innerhalb der Ukraine sprechen: Dort wird es für Putin natürlich sehr schwer sein, von seiner bisherigen Position abzurücken. Er hatte ja im Oktober 2022 die vier Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson annektiert, ohne sie überhaupt vollständig militärisch zu kontrollieren.
Sind EU-Soldaten in der Ukraine eine Option für Putin?
Ich denke, wenn das unter einem UNO-Mandat passieren würde und zu russischen Konditionen, dann könnte Putin dem wahrscheinlich zustimmen. Das bedeutet natürlich, dass ein solcher Einsatz ausserhalb der Grenzen erfolgen müsste, die Russland seit Oktober 2022 für Russland beansprucht.
Trump gibt gern den starken Mann: Läuft Putin nicht Gefahr, sich den Ärger des US-Präsidenten zuzuziehen, wenn er bei den Verhandlungen nicht so verfährt, wie der sich das vorstellt?
Ja, natürlich, das ist so. Aber auf der anderen Seite sind die Hebel, die Trump gegenüber Moskau ansetzen kann, relativ kurz. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Russland waren schon vor 2014 viel schwächer als zwischen Russland und der Europäischen Union. Deswegen ist es Amerika auch immer relativ leicht gefallen, Wirtschaftssanktionen gegen Russland auszusprechen. Viele Sanktionen haben den USA auch in die Hände gespielt: Die Tatsache, dass viele europäische Länder ihre Rohstoffe jetzt nicht mehr in Russland kaufen, hat die amerikanische Öl- und Gaswirtschaft natürlich beflügelt.
Wird Washingtons Unterstützung definitiv sinken?
Wir wissen jetzt in groben Zügen, wer die amerikanische Aussenpolitik gestalten wird: Für diese Politiker ebenso wie auch für den Vizepräsidenten J. D. Vance ist die Ukraine eigentlich ein Nebenschauplatz. Die schiessen sich alle auf China ein. Aber beides hängt zusammen. Wenn die Ukraine jetzt eine Niederlage gegenüber Russland erleidet, dann ist das auch eine strategische Niederlage für die USA, die die Ukraine in den vergangenen Jahren erheblich unterstützt haben. Und das würde Washington natürlich auch in den Augen Pekings schwach aussehen lassen. Das wird auch eine Administration Trump mit allen Mitteln zu vermeiden suchen.
Gibt es eigentlich zu Putin Alternativen oder hat er das Feld hinter ihm abgeräumt?
Er hat es nicht abgeräumt, sondern darauf geachtet, dass in den Führungspositionen loyale Leute sitzen, die seinen aggressiven Kurs zumindest billigend in Kauf nehmen. Wenn wir auf die engste Entourage von Putin schauen, dann sind da eigentlich nicht die begeisterten Kriegstreiber. Nehmen wir zum Beispiel die einzige wichtige Personalie, die sich mit Putins Amtsantritt als Präsident zu Beginn dieses Jahres geändert hat.
Der Verteidigungsminister.
Genau, Andrei Beloussow ist ein Ökonom, der keinen militärischen Hintergrund hat. Beloussow steht einerseits für die Militarisierung der russischen Volkswirtschaft und andererseits für die Ökonomisierung des russischen Militärs. Das heisst: Putin hat mit dieser Ernennung vor allem auch Effizienzüberlegungen im Blick.
🇷🇺💪 Belousov Gang. My praise of the appointment of Russian Minister of Defense Andrey Belousov has proven to be completely correct.
Der langjährige Ministerpräsident Michail Mischustin hat ein enorm tiefes Profil gehalten und sich kaum je zum Krieg geäussert. Ich denke, das ist auch bezeichnend für dieses Stillhalteabkommen zwischen der Führungselite und dem Präsidenten, der diesen Krieg fast im Alleingang beschlossen hat. Man versucht jetzt gewissermassen, diesen Balanceakt weiterzuführen. Putins Kalkül besteht darin, dass er glaubt, den längeren Atem in diesem Abnützungskrieg zu haben.
Moskau sagt, die USA würden zur Kriegspartei, wenn sie Beschränkungen für weit reichende Waffen aufheben. Ist das nur Rhetorik?
Die Ankündigung aus Washington bezieht sich jetzt eben vor allem auf den Einsatz von nordkoreanischen Truppen und auch auf die massiven russischen Angriffe der letzten Wochen – seit klar ist, dass Trump Präsident wird. Russland versucht im Moment, Fakten zu schaffen, die dann nach Trumps Amtsantritt am 20. Januar unverrückbar erscheinen. Im Moment sieht es jedoch so aus, als ob beide Seiten versuchen, den Ball flach zu halten. Biden ist nicht derjenige gewesen, der diese Änderung der Freigabe persönlich kommuniziert hat. Und auch in Russland kam diese Retourkutsche von subalterner Stelle.
Insider: Biden erlaubt Ukraine Angriffe tief innerhalb Russlands
Am Sonntagabend Ortszeit traf Joe Biden zum G20-Gipfel in Rio de Janeiro ein, parallel zu Berichten über eine mögliche Wendung in der Ukraine-Politik des US-Präsidenten. Insidern zufolge hat Biden dem Land erlaubt, US-Waffen mit längerer Reichweite gegen Ziele tief im russischen Staatsgebiet einzusetzen. Die entsprechenden Beschränkungen seien aufgehoben worden, sagten drei mit dem Vorgang vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters.
18.11.2024
Wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, dass der Krieg in der Ukraine bald zu einem Ende oder zumindest zu einem Waffenstillstand kommt?
Es ist schwierig, jetzt zu sagen, was sich mit einer Präsidentschaft von Trump ändern wird. Es gibt ja in Amerika seit 1799 die sogenannte Logan Act, die es Privatpersonen untersagt, mit ausländischen Mächten Verhandlungen zu führen. Und Trump ist bis zum 20. Januar eine Privatperson. Das heisst, er kann sich im Moment gar nicht weit zum Fenster hinauslehnen.
Was kann er tun?
Im Moment gibt es verschiedene Szenarien. Ich halte ein alternativloses Herunterfahren der amerikanischen Hilfe für die Ukraine für eher unwahrscheinlich – eben, weil ein unkontrollierter Rückzug die angestrebte amerikanische Position der Stärke gegenüber China kompromittieren würde. Auf der anderen Seite ist auch klar, dass Trump versuchen wird, sich irgendwie aus dieser Pattsituation herauszuziehen. Aber wer sollte in die Bresche springen? Deutschland und Frankreich sind im Moment sehr schwach. Es gibt einfach keinen Akteur, der diese Leerstelle ausfüllen könnte, die ein amerikanischer Rückzug eröffnen würde.