Ukraine: Russland übt massive Vergeltung für Explosion auf Krim-Brücke
Ukraine: Russland übt massive Vergeltung für Explosion auf Krim-Brücke
10.10.2022
Putins Krieg ist zurück in Kiew: Mitten im Zentrum schlagen am Montag Raketen ein, auch andere Städte werden angegriffen. War das nur Vergeltung oder steckt mehr dahinter? Ein Experte erklärt die Eskalation.
Als der Luftalarm in Kiew erklingt, nehmen ihn viele Menschen gar nicht ernst. Monatelang blieb die ukrainische Hauptstadt vor russischen Angriffen weitgehend verschont – dann schlagen Geschosse mitten im Zentrum ein.
Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnete die Angriffe als Vergeltung für Kiews «terroristische» Handlungen, darunter der Angriff auf die Krim-Brücke vom vergangenen Samstag. Zugleich drohte der Kremlherrscher bei einer Sicherheitsratssitzung mit einer noch härteren «Antwort», sollte die Ukraine weitere «Terroranschläge» verüben. Russische Hardliner bejubelten die Angriffe und forderten mehr.
Doch welche Optionen hat Putin überhaupt? Wie geht der Krieg nach der erneuten Eskalation weiter? Niklas Masuhr, Militäranalyst von der ETH Zürich, erklärt im Interview mit blue News, was jetzt von Russland zu erwarten ist.
Zur Person
zvg
Niklas Masuhr ist Sicherheitsforscher und Militäranalyst am Center for Security Studies der ETH Zürich.
Russland scheint im Krieg gegen die Ukraine härter zuschlagen zu können, wenn Putin es will: Aber wieso erst jetzt?
Das hängt vor allem damit zusammen, dass Russland für Präzisionsschläge auf Waffensystem zurückgreifen muss, die der Armee nur begrenzt zur Verfügung stehen. Konkret sind das ballistische Iskander-Raketen und Kalibr-Marschflugkörper.
Es ist natürlich ein Overkill, solche modernen Systeme zu verwenden, um zum Beispiel Fussgängerbrücken in Kiew zu treffen. Das ist ein Indiz dafür, dass die Vergeltungsschläge vor allem ein Signal nach innen waren. Die Lage lässt sich also so deuten, dass sich die Vergeltungsschläge weniger an die Ukraine als eher an das interne russische Publikum richteten, weil man glaubte, beweisen zu müssen, in der Lage zu sein, solche Schläge durchzuführen.
Diesen Beweis hätte der Kreml doch auch in früheren Kriegsphasen führen können …
Russland hat während des gesamten Krieges ukrainische Ziele mit diesen Raketen beschossen. Insbesondere im Frühjahr wurden sie eingesetzt, um die ukrainische Rüstungsindustrie und andere kritische Infrastruktur zu zerstören. Dabei wurden auch zivile Ziele getroffen, möglicherweise, weil es den Russen egal war oder weil militärische Ziele verfehlt wurden. Beim Beschuss des Einkaufszentrums von Krementschuk im Juni steht die Vermutung im Raum, dass Russland eigentlich ein vermutetes militärisches Ziel in der Nähe treffen wollte.
Dass die russische Armee ab einem gewissen Punkt sehr konservativ beim Einsatz von Präzisionsraketen geworden ist, liegt daran, dass der Krieg für sie weniger gut lief und man sich diese Systeme in der Hinterhand behalten wollte: Auch für den Fall einer eventuellen Eskalation mit der NATO.
Auf dem Boden sieht Putins Armee im Moment kaum noch Land: Wird der Kreml jetzt häufiger Raketenangriffe lancieren?
Auch wenn die Gefahr besteht, dass meine Prognose in der nächsten Woche ad absurdum geführt wird: Aktuell denke ich, dass die Raketenangriffe in dieser Form ein singulärer Vergeltungsschlag für den Angriff auf die Kertsch-Brücke waren. Russland hat wie gesagt limitierte Vorräte dieser Systeme: Sie wie heute als Terrorwaffen zu benutzen, ist tendenziell zu teuer.
Im weiteren Kriegsverlauf könnte es nun verstärkt zu Sabotageakten auf beiden Seiten kommen, glauben einige Experten. Teilen Sie diese Einschätzung?
Da ist auf jeden Fall etwas daran. Wenn sich die Frontlinien aufgrund des Winters stabilisieren, werden beide Seiten schauen, wie sie der jeweils anderen Schaden zufügen kann, ohne dass man die Panzer in Bewegung setzt. Die Ukraine hat in diesem Krieg auch bereits Ziele in Russland angriffen: eine Raffinerie in Belgorod etwa oder die Luftwaffenbasis Millerovo im Oblast Rostow. Sabotage ist und wird ein probates Mittel bleiben. Das Entscheidende aber ist, dass möglicherweise die Sabotage im Westen zunehmen wird.
Spielen Sie damit auf die Ostsee-Pipelines und auf den Angriff auf die Infrastruktur der Deutschen Bahn am Wochenende an?
Ja. Ob es Russland war oder nicht, weiss man nicht abschliessend. Russlands bisherige Versuche, den Westen einzuschüchtern, sind gescheitert: Ein Angriff auf westliche zivile Infrastruktur könnte daher ein aus russischer Sicht probates neues Ziel sein.
Sabotage im Westen als Teil der hybriden Kriegsführung?
Grundsätzlich ja. Die Attacke auf Ostsee-Pipelines könnten als Testlauf und Signal gesehen werden, dass Russland fähig und bereit ist, diese Schritte zu gehen. Über weitere Ziele könnte ich nur spekulieren, aber dass es bei der zivilen Infrastruktur im Westen gewisse neuralgische Punkte gibt, ist ja nichts Neues. Darüber haben wir schon in der Terrorismusdebatte ausführlich diskutiert.
Welche Möglichkeiten bleiben Putin noch als Reaktion auf den Angriff auf die Krim-Brücke?
Sowohl die Angriffe heute als auch womögliche Sabotageakte über die Ukraine hinaus zeigen, dass Putin noch einige Möglichkeiten bleiben, mit denen er den Krieg eskalieren kann. Wobei sich schon die Frage stellt, was bei Angriffen auf die ukrainische Zivilbevölkerung neu ist.
Die russischen Truppen haben seit Beginn des Krieges an zahlreichen Orten Kriegsverbrechen begangen, sodass man auch nicht sagen kann, dass die Raketenangriffe eine neue Stufe der Brutalität darstellen. Neu ist nur die Koordination der Angriffe gewesen und dass Russland dieses Zeichen unbedingt setzen wollte.
Was bedeuten diese Angriffe für die Kampfmoral der Ukrainer?
Einschüchtern lassen sich die Menschen in der Ukraine davon nicht. Bisher haben russische Handlungen, mit denen die ukrainische Bevölkerungen terrorisierten werden sollte, immer das Gegenteil erreicht.
Russland hat Berichten zufolge 75 Raketen abgefeuert, von denen nur gut die Hälfte abgefangen werden konnte: Wie leistungsfähig ist die Luftabwehr?
Grundsätzlich ist es schwer, Raketen abzufangen. Das ist kein Selbstläufer. Luftabwehrsysteme sind spezialisiert: Systeme beispielsweise, die gut darin sind, ballistische Raketen abzufangen, sind nicht automatisch für den Einsatz gegen tieffliegende Marschflugkörper geeignet.
Dazu kommt, dass viele der ukrainische Luftverteidigungssysteme derzeit im Osten sind. Es ist eine der Logiken des Krieges bisher, dass Russland mit Schlägen gegen ukrainische Städte die Verteidiger zwingen will, diese Luftabwehrsysteme zum Schutz der Zivilbevölkerung zu verwenden und nicht an der Front.
Es hilft also der Ukraine, dass der Westen schnell mehr Luftabwehrsysteme liefert, wie es Deutschland am Vormittag zugesagt hat?
Genau. Das Problem ist aber, dass Luftabwehrsysteme im Zuge des Krieges gegen den Terror auf der NATO-Seite vernachlässigt wurden. Der Westen hat also kaum etwas, was er schicken könnte. Ausserdem gilt es abzuwägen, was man selbst behalten will, falls es doch mit Russland eskaliert. Also so schnell und so leicht, bekommt Kiew Luftabwehrsysteme nicht auf den Hof gestellt: zumal es nicht nur eine Frage der Ausrüstung, sondern auch der Ausbildung ist.
Israel hat einen der fortschrittlichsten Raketenabwehrschirme der Welt: Warum bekommt die Ukraine keine Hilfe aus Tel Aviv?
Luftabwehrsysteme sind keine magischen Schutzschilde. Israels «Iron Dome» ist für einen gewissen Zweck konzipiert und würde anderswo gar nicht oder nur bedingt einsetzbar sein.
Kommt hinzu, dass Israel der Ukraine überhaupt keine Waffen liefert, keine Drohnen, keine Panzerabwehrraketen. Das hat vor allem politische Gründe. Dabei hätten sie einige Systeme, die der Ukraine helfen würden.
Explosionen in Kiew
In der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat es am Montagmorgen mehrere Explosionen gegeben. Sie hätten sich im Zentrum ereignet, teilte Bürgermeister Vitali Klitschko mit.
10.10.2022